Ab nach drüben
von Daniel am 11.12.2014
Ich muss jetzt zur CDU. Hat die Genossin aus Thüringen gesagt. Ich will zwar nicht, aber die junge Frau war sehr deutlich: „Wenn Euch die Jusos zu links sind, dann geht doch in die Junge Union!“
Früher hat man die unbequemen Leute auch immer „nach drüben“ schicken wollen, aber das war ja ebenfalls keine Lösung. Immerhin habe ich ein passendes Zitat von einem Unionspolitiker gefunden, mit dem ich diesen Text beginnen kann: „Die Qualität und Substanz einer lebendigen Demokratie ist daran zu erkennen, wie sie mit Minderheiten umgeht.“
Das hat Norbert Lammert gesagt, in einer Rede als Schirmherr des Genç-Preises für deutsch-türkische Versöhnung. Eigentlich ist das Zitat von Mahatma Ghandi, und der spricht von Zivilisation statt von Demokratie, aber das wäre etwas hoch gegriffen. Demokratie und auch Versöhnung passen schon ganz gut.
Der Reihe nach. Ich bin mal wieder auf einen Bundeskongress der Jusos gefahren, diesmal nach Bielefeld. Wollte ich eigentlich nicht mehr, weil mich das letzte Mal so geärgert hat. Außerdem war es ausgerechnet in Ostwestfalen, quasi die Schäl Sick des Münsterlands. Aber da wir Realos auf Bundeskongressen immer einen schweren Stand haben, man viele spannende Leute trifft und auch die große NRW-Delegation hauptsächlich aus netten Menschen besteht, bin ich als Gast angereist.
Und ganz unter uns: So schlimm ist Ostwestfalen gar nicht, auch wenn es zu zwei Dritteln aus Himmelsrichtungen besteht. Auf Roter Erde lässt sich außerdem gut über linke Politik diskutieren. Auch der Bielefelder Stadtplan zeigt sich äußerst sozialdemokratisch: Die große Kongresshalle am Willy-Brandt-Platz, eingerahmt von August-Bebel– und Friedrich-Ebert-Straße.
Nun war aber auch dieses Jahr schnell klar: Richtige Debatten gab es keine, die Jusos haben sich nur ein weiteres Mal dem eigenen Linkssein vergewissert und am Ende ein bisschen gesungen. Das Ergebnis und auch das Abstimmungsverhalten waren mit etwas Hintergrundwissen vorhersehbar: Die realpolitischen Landesverbände Hamburg und Baden-Württemberg haben jede Abstimmung verloren, und auch die pragmatische Fraktion aus NRW wurde regelmäßig niedergestimmt. Das Beschlussbuch ist deshalb auch kein wirklicher Aufgabenzettel geworden, sondern wieder mal eine Art sozialistisches Gesinnungsprotokoll, für das die Tagespolitik nur Stichwortgeber ist. Alles also wie gehabt.
Letztes Jahr habe ich mich darüber geärgert. Dieses Jahr überwiegt die Neugier: Warum ist das so? Was treibt die Leute an? Denn einerseits verträgt sich die Tyrannei der Mehrheit natürlich überhaupt nicht mit den eigenen Werten von Demokratie und Minderheitenschutz. Und andererseits wird wohl auch dem letzten Naivling klar sein, dass die Bundesregierung nun trotz Beschluss weder den Verfassungsschutz abschafft (Antrag I 1), noch sämtliche Drogen legalisiert (Antrag P 8). Auch die Beschlüsse zu Israel oder Russland dürfte man im Auswärtigen Amt kaum als Arbeitsgrundlage in Betracht ziehen. Es wäre also vermutlich halb so wild gewesen, wenn man den Realos hier und da die Hand gereicht hätte.
Hat man aber nicht.
Für mich warf das am Wochenende zwei Fragen auf:
1. Stört dieser Bruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit niemanden?
2. Warum tut man sich das als Realo überhaupt noch an?
Die erste Antwort ist lang, die zweite dafür erfrischend kurz.
Anspruch und Wirklichkeit
Die Süddeutsche Zeitung hat den Bundeskongress eine „Linke Parallelwelt“ genannt, und das trifft es ganz ohne Häme: Es ist ein sozialer Schutzraum, in dem man sich seiner eigenen Identität vergewissert. Die Jusos sind für viele keine politische Bewegung, sondern eine Jugendkultur; also tatsächlich eine Parallelwelt, in der die Regeln der „Alten Säcke“, wie die Bundesvorsitzende die Koalitionspolitiker immer wieder nannte, außer Kraft gesetzt werden. Im Jargon der sozialwissenschaftlichen Forschung heißt das: Eine politische Subkultur, weil die bestehende Kultur der Älteren den Heranwachsenden in ihrer Adoleszenz keine passenden Ausdrucksmöglichkeiten für das empfundene Lebensgefühl anbietet.
Wenn man neueren Arbeiten zu meiner Generation Glauben schenkt, ist dieses Lebensgefühl vor allem geprägt durch Zukunftsfragen und Unsicherheit – ausgelöst durch die soziale Drift und die Erosion gesellschaftlicher Institutionen, die früheren Generationen noch Sicherheit versprechen konnten.
Der SPD ist dieses Gefühl nicht fremd. Als industrielle und demokratische Revolutionen die Gesellschaft im 19. Jahrhundert auf den Kopf gestellt hatten und Bebel, Lassalle und Liebknecht ihre ersten Reden schwangen, war die Zukunftsangst eine ähnliche – wenn auch auf sehr viel weniger Wohlstand und soziale Sicherheit gegründet.
Eine mögliche Antwort war damals wie heute die sozialistische Utopie: Wenn man sich Karl Kautskys Arbeiten zur Welt von Morgen anschaut, die Ende des 19. Jahrhunderts das Proletariat bewegten, dann fühlt man sich an die alljährlichen Beschlussbücher der Jusos erinnert: Man beschäftigt sich intensiv mit der Zukunft und der wünschenswerten Gesellschaft, spricht aber höchstens abstrakt über den steinigen Weg dorthin, mit all seinen Kompromissen, Rückschlägen und Winkelzügen. Für viele Jusos ist der Bundeskongress genau dieser gemeinsame Traum von der Zukunft – und auch von der grimmen Gegenwart, aus der man zur Sonne, zur Freiheit strebt.
Wenn man die Unbarmherzigkeit und Aggressivität mancher Delegierten gegenüber Andersdenkenden erklären möchte, muss man genau hier ansetzen.
Natürlich bestreitet auch der pragmatische Flügel nicht das Leid der Flüchtlinge, den Terror des Krieges, die Armut der Menschen und die soziale Verantwortung der Gesellschaft. Er hat aber die unangenehme Angewohnheit, bei der Präsentation der idealtypischen Zukunft den Projektor auszuschalten und den Verblendungszusammenhang zu durchstoßen, wie es bei Adorno so schön heißt.
Nur so ist es zu erklären, dass bei aller Rede von Toleranz, Offenheit, Pluralität, Demokratie und Minderheitenschutz der tatsächlichen Realo-Minderheit im Plenum mit gnadenloser Härte die Daseinsberechtigung abgesprochen wird: Man sieht seine selbstgewählte Identität als sozialistischer Revolutionär bedroht, und das im innersten Heiligtum der eigenen Kultur. Genau diese Existenzangst lässt ansonsten friedliche und nette Menschen am Podium plötzlich zu schäumenden Demagogen mutieren, deren Inbrunst jedem promovierten Rheinländer zur Ehre gereicht.
Revolution und Reform
Dabei ist dieser Disput bei den Jusos so alt wie die Partei selbst. Seit ihrer Gründung streiten in der SPD Reformisten und Revolutionäre miteinander: Bernstein gegen Kautsky, Scheidemann gegen Liebknecht junior und später ja auch irgendwie Schröder gegen Lafontaine. Das ist Teil der Historie dieser Partei und auch ihrer Gegenwart.
Ich habe allerdings das Gefühl, dass bei vielen Jusos das Bewusstsein für diese gewachsene Dynamik fehlt. Seit der sogenannten Linkswende im Jahr 1969 definieren die jeweiligen Machthaber ihre Organisation als sozialistischen Richtungsverband am linken Rand der Partei – und dulden keinen Widerspruch.
Das führt natürlich zu einem Problem, denn die Jusos sind ja eigentlich eine breitgefächerte Jugendorganisation. Nicht alle jungen Menschen bis 35 treten in die SPD ein, weil sie Marxisten sind. Oder Sozialisten. Oder besonders linke Sozialdemokraten. Manche treten auch wegen Gerhard Schröder ein, wegen Peer Steinbrück, Olaf Scholz oder Helmut Schmidt. Und deren politische Überzeugung ist dann ganz sicher nicht dort, wo sie die sozialistischen Oberhäupter haben möchten.
Dann wird es schwer für die Neulinge, weil Ihnen keine Möglichkeit der Partizipation geboten wird. Aus diesem Grund hatte sich seinerzeit die Pragmatische Linke gegründet, um zumindest gemeinschaftlich diese randständigen Interessen zu vertreten. Da aber dieser Ansatz den Gleichschritt vom sozialistischen Richtungsverband stört, hat die PL und auch wesensverwandte Politik aus Baden-Württemberg seit jeher einen schweren Stand.
In meinen Augen liegt genau hier auch der Grund für die Überalterung der SPD. Die Jusos funktionieren nicht mehr als Jugendorganisation, sondern sind nur noch das großzügig finanzierte Vehikel einer jungen sozialistischen Clique – die natürlich felsenfest von der Rechtmäßigkeit ihrer Politik überzeugt ist und die SPD am liebsten wieder in die Zeiten vor Godesberg zurücktreiben würde. Das ändert aber natürlich nichts an den Tatsachen: Eine Parteijugend kann kein Richtungsverband sein. Man vereint entweder die gesamte politische Bandbreite seines demografischen Segments, oder man schließt sich als spezifische Interessensgruppe zusammen, so wie es in der Partei einige gibt: Das Forum DL21, den Seeheimer Kreis, das Netzwerk Berlin, früher die Kanalarbeiter und neuerdings die Magdeburger Plattform.
Alle Jahre wieder: Der Richtungsstreit
Letztere war am Samstag dann auch Auslöser des alljährlichen Richtungsstreits, der regelmäßig zu Hasstiraden gegenüber der Realofraktion führt. Vorausgegangen war ein offenes Bekenntnis auf Bundesebene zur Magdeburger Plattform, bei der sich die SPD-Linke nun organisiert. Der Bundesvorstand hatte durch offizielle Kanäle dafür geworben, außerdem mit Verbandsmitteln eine Fahrt zum Gründungskongress der Plattform finanziert – sehr zum Ärger vieler realpolitischer Jusos, die sich mit den Positionen der Parteilinken meist überhaupt nicht identifizieren können. Ein Alternativangebot gab es nicht.
Das Argument in der Debatte war dann zugegebenermaßen ein sehr pragmatisches: Man suche die Nähe zur Parteilinken, weil die beschlossenen Positionen am ehesten mit ihr umsetzbar sind. Das ist zwar kaum zu bestreiten, aber als Grund natürlich vorgeschoben – alle Bundesfunktionäre engagieren sich bei der Plattform, und das aus Überzeugung.
Die Debatte selbst kreiste vor allem um die Rechtmäßigkeit dieser Sache. In meinen Augen war die wichtigste Frage allerdings schon beantwortet: Der Bundesvorstand weiß um die Vielfalt der Mitglieder, schert sich aber nicht darum. Er bedient konsequent das eigene Klientel. Die Bundesvorsitzende Uekermann gehört zu den Traditionalisten, und auch der restliche Vorstand rekrutiert sich ausschließlich aus den beiden linken Strömungen. Andersdenkende werden deshalb ignoriert oder geschasst. Die PL aus NRW zum Beispiel wollte auf dem Kongress einen Infostand organisieren, um ihre Positionen zu erklären und Gesprächsmöglichkeiten abseits der Debatten anzubieten. Man hatte sich zu dieser Öffentlichkeitsarbeit entschlossen, nachdem auf der letzten Landeskonferenz in NRW die Strömungsdynamik beinahe die Veranstaltung gesprengt hatte. Immerhin waren neben zahlreichen Lobbyständen auch der linke Parteiflügel in Form des Forums DL21 vertreten, insofern schien das kein Problem. Der Bundesvorstand lehnte allerdings ab – mit der lapidaren Erklärung, man habe keine Lust darauf.
Überrascht hat es mich nicht, aber ich hatte zumindest einen juristschen Winkelzug erwartet. Stattdessen traf uns die offene Willkür. Was blieb, waren ein paar Flyer – begleitet von hämischen Kommentaren und dem Hinweis, die Leute würden dann ja endlich unsere „wahren Absichten“ erkennen. Mir wurde in diesem Moment klar, wie sehr sich manche Delegierte in Verschwörungstheorien verstricken: Hier die aufrechten Revolutionäre, dort die pragmatischen Feinde der Freiheit mit ihrer unheiligen Agenda.
Juristisch mag das alles bestimmt vertretbar sein, anständig und redlich ist es nicht. Die Bundesfunktionäre verfolgen damit eine Politik der Nulltoleranz, die zwar den eigenen Interessen dient, dabei aber der eigentlichen Verantwortung nicht gerecht wird: Sie repräsentieren nicht die tatsächliche Parteijugend, und sie wollen sie auch nicht repräsentieren. Sie wollen einen sozialistischen Richtungsverband führen, in dem eine ideologische Elite über das Fortkommen der jungen SPD-Mitglieder entscheidet. Und das machen sie seit Jahren sehr erfolgreich. Sucht man einen Grund für den ständig latent kriselnden Zustand der SPD, dann liegt das nicht unwesentlich an diesem Problem: In der Jugendorganisation wird seit Jahren eine Haltung kultiviert, die große Teile der Partei und ihrer Politik ablehnt und verachtet.
Hinter den Kulissen
Aus Sicht eines neutralen Parteimanagers müsste man die Jusos als Jugendorganisation also eigentlich demontieren, weil sie nicht anständig liefert: Der aktive Nachwuchs ist nur eine sozialistische Auslese, radikalisiert in seinen Ansichten und kaum ein Abbild der gesamten Partei.
Aber das wird natürlich nicht geschehen, denn einerseit ist der linke Flügel in der Partei durchaus stark, und andererseits will sich niemand an einer derart historischen Institution verheben. Trotzdem: Wäre die SPD ein maroder Fußballverein, würde man sicher erstmal die Nachwuchsarbeit reformieren. Dribbelkünste allein nützen wenig, man muss auch Tore schießen können.
Ich glaube allerdings, dass sich nur wenige Bundesfunktionäre tatsächlich so leidenschaftlich mit dem alle Jahre wieder beschlossenen Umstürzlertum identifizieren, wie sie es vorgeben. Sie bedienen die dominante Fraktion, um voran zu kommen. Auch hier zeigt sich ein Auseinandertreten zwischen Anspruch und Wirklichkeit: Viele haben vergleichsmäßig gut bezahlte Referentenstellen im politischen Betrieb und exekutieren in dieser Funktion genau jene Politik, die sie auf der Bühne dann mit revolutionsromantischer Geste verteufeln.
Man sieht das gut an der Bundesvorsitzenden selbst: Der Arbeitgeber von Johanna Uekermann ist Axel Schäfer, Bundestagsabgeordneter und stellvertretender Fraktionschef der SPD. Schäfer ist zwar Mitglied der Parlamentarischen Linken, hat als Teil der Regierungskoalition aber für zahlreiche Bundeswehreinsätze im Ausland votiert und außerdem einen Antrag der Grünen abgelehnt, der die Einberufung der berüchtigten Schiedsgerichte im Rahmen des transatlantischen Freihandelsabkommen TTIP verhindern sollte. Das alles waren sicher gut begründete Entscheidungen – sie stehen allerdings der offiziellen Juso-Rhetorik diametral entgegen. Mehr als das: Als Referentin arbeitet Uekermann vermutlich an genau jenen Reden und Artikeln, mit denen Schäfer seine Entscheidungen begründet – nur um dieses Wahlverhalten dann in der Presse und am Podium als „Anbiederung an die sogenannte Mitte“ zu geißeln.
Man kann allerdings wohl davon ausgehen, dass beide sich über diese Diskrepanz unterhalten haben. Der eine wird als erfahrener Parlamentarier um die besondere Folklore der Jusos wissen, die andere wird als Arbeitnehmerin ihren Brötchengeber nicht verärgern wollen. Ich finde diese Diskrepanz auch nicht verwerflich. Als Ghostwriter teile auch ich nicht immer hundertprozentig die Einstellungen meiner Kunden. In solchen Fällen ist man dann einfach professioneller Dienstleister und stellt seine persönliche Meinung hintan.
Der totale Sozialismus
Was mich allerdings stört, ist der moralische Totalitarismus, der sich dann auf anderer Ebene ausbreitet und durch die offizielle Linie angeheizt wird. In der Richtungsdebatte am Samstag wurde dann auch nicht mehr differenziert diskutiert, sondern die rhetorische Stalinorgel ausgepackt: Die eigene Sache musste schließlich gegen den Feind im Innern beschützt werden. Ein Genosse aus Berlin schüttelte dazu am Podium den Zeigefinger und versprach, den Sozialismus „bis zum letzten Mann gegen euch zu verteidigen!“ In diesem Vokssturm der Entrüstung jagte dann auch die Frau aus Thüringen alle realpolitischen Dissidenten zum christdemokratischen Teufel.
Klar ging es dabei nur um die eigene jugendkulturelle Identität, aber im Verhalten der Leute konnte man dabei fast schon faschistoide Tendenzen erkennen: Eine rauschhafte Mehrheit verhöhnte und verachtete die politische Minderheit. Jemand fragte allen Ernstes, wieso aus Baden-Württemberg überhaupt Anträge kämen, weil die ja ohnehin abgelehnt würden. Ein bayrischer Genosse verstieg sich zu der Aussage, man sei als Funktionär ja überhaupt nicht allen Jusos verpflichtet, sondern nur dem eigenen Wählerklientel. All das natürlich im ungetrübten Bewusstsein, sich für demokratische Freiheit, grenzübergreifende Solidarität und soziale Gerechtigkeit einzusetzen. Auch hier gibt es natürlich besonnene Kräfte, aber die werden dann durch das laute Hurra des Kaders übertönt.
Wen es tatsächlich wundert, weshalb der Sozialismus in der Geschichte fast immer zur Diktatur mutiert ist, der findet im aufgehetzten Rudelverhalten auf dem Bundeskongress zumindest einen kleinen Hinweis: Es ist die Verachtung der Andersdenkenden.
Aber auch das weiß man aus der politischen Geschichte: Erlebte Feindseligkeiten schweißen zusammen und fördern den eigenen Idealismus. Denn auch wenn man den Pragmatikern dauernd vorwirft, keine Prinzipien oder wirklich feste Überzeugungen zu haben: Genau hier zeigt sich der der Antrieb der realpolitischen Fraktion. Weshalb sonst schreibt man in Hamburg jedes Jahr neue Papiere? Weshalb sonst stellt man in Baden-Württemberg unermüdlich Änderungsanträge? Und weshalb sonst fährt man Jahr für Jahr auf einen Kongress, auf dem man nicht nur unterlegen ist, sondern auch mit Häme und Hass überschüttet wird? Man macht es aus dem gleichen Grund, aus dem auch Karl Liebknecht seinerzeit als Einziger ohne Chance auf Erfolg gegen die Kriegskredite gestimmt hatte: Weil man die Politik der Mehrheit scheiße findet. Edler gesprochen: Weil man aus tiefer Überzeugung handelt, und sich deshalb der Masse nicht beugen kann.
Was tun?
Genau das ist auch die Antwort auf Frage Nummer zwei, weshalb man sich das immer noch antut: Die pragmatische Fraktion muss nicht um Posten oder Beschlüsse kämpfen, sondern – viel grundlegender – um ihre Anerkennung. Schon um die Demokratie bei den Jusos lebendig zu halten.
Man wird mit den eigenen Position sicher nicht die Hardliner und Opportunisten überzeugen, aber irgendwann stößt man bei den toleranteren Leuten ein langsames Umdenken an. Das muss nicht zwangsläufig ein politischer Stellungswechsel sein – aber es würde schon reichen, realpolitische Positionen als gleichwertigen Teil der Verbandsarbeit anzuerkennen und sie mit dem gleichen Respekt zu behandeln, den man für so vieles andere einfordert.
In NRW hat es dazu eine kollabierte Landeskonferenz gebraucht; seitdem nähert man sich an und trinkt auch mal wieder ein Bier zusammen. Wer weiß, was in den nächsten Jahren auf Bundesebene geschieht. Eins ist allerdings klar: Weiter so kann es nicht laufen, sonst stirbt der Verband den langsamen Tod und die Jusos verrotten im eigenen Saft. Die politisch engagierten jungen Leute in Deutschland gehen dann tatsächlich alle zur Jungen Union. Und das kann kaum im Sinne der sozialdemokratischen Sache sein.
Bundesgeburtstagsglückwunsch
von Daniel am 17.07.2014
Liebe Frau Bundeskanzlerin,
ich freue mich, und das möchte ich an dieser Stelle in aller Offenheit sagen, Ihnen im Rahmen ihres 60. Geburtstags meine Glückwünsche ausrichten zu können. Obwohl wir in der Politik oft unterschiedlicher Meinung sind, darf ich Ihnen an dieser Stelle meine Verbundenheit ausdrücken. Ich glaube, dass Ihnen oftmals vielleicht auch etwas Abseitigkeit zu meinem Handwerk unterstellt wird. Als beruflicher Autor von Redemanuskripten kann ich Ihnen in dieser Hinsicht aber ganz konkret mitteilen, dass man bei meiner Arbeit von Ihnen auch lernen kann.
Was ist an Ihrer Art zu Sprechen so besonders? Das Besondere ist hier vor allem verschiedene Stilmittel, die man immer wieder bemerken darf:
Da ist ihre Liebe zur Substantivierung, der Nominalstil in Vollendung. Durch Suffixe und Präfixe kommen die Verben zur Ruhe. Was waltet, erstarrt in Verwaltung.
Dann die Adverbien, die Umstandswörter, sie sind wirklich umständlich. Oft benutzen Sie manchmal recht häufig viele hintereinander, letztlich sonst doch eher unüblich für die Schriftsprache, trotzdem aber auch gerade nützlich zur Befüllung der eigenen Sätze.
Auch das Passiv hat es Ihnen angetan. Entscheidungen werden getroffen, Verträge unterschrieben, Diskussionen geführt. Alternativen werden verworfen und das Land wird regiert, denn dazu kann Ihre Politik einen Beitrag leisten.
Förmlichkeit schätzt man an Ihnen ebenfalls. Sie sagen, dass sie es sagen, und das in aller Deutlichkeit. Und wenn Sie sagen, dass sie etwas glauben — dann sagen Sie das mit großer Emphase.
Das ist der nächste Punkt. Ich glaube, diese Emphase macht sie besonders liebenswürdig. Mit sanfter Faust finden Sie ganz herzlich etwas äußerst spannend. Das ist die bestmögliche Form der Art und Weise, denn den Glauben kann Ihnen keiner nehmen.
Und schließlich schleichen sich Metaphern in den Fluss Ihrer Rede, um als Stabilitätsanker das Land wieder auf Kurs zu bringen. Da ist nicht alles Gold, was schweigt, aber nachdem Sie die Weichen richtig gestellt haben, fahren Sie mit Deutschland zur See: Alle an Bord, in ruhigem Fahrwasser das Ruder in der Hand, den sicheren Hafen vor Augen.
Liebe Frau Bundeskanzlerin,
der Geburtstag ist ja oft auch immer ein Zeitpunkt der guten Vorsätze. Manchmal gibt es Bestrebungen mit dem Rauchen aufzuhören, die eigene Arbeit zu verändern oder in der Gestaltung der Freizeit effizienter zu sein. Doch dann kommt das neue Jahr, und schnell hat einen der Alltag wieder. Für das kommende Lebensjahr haben Sie sonst aber bitte trotzdem die Entschlossenheit, Ihre Vorsätze umzusetzen.
Nachdrücklich, und das sage ich aus vollstem Herzen, wünsche ich Ihnen Gesundheit und ein neues Jahr.
Äußerst herzlich
Ihr
Das Bambi hat die Haare schön
von Daniel am 20.02.2014
Ironie ist oft der Versuch, aus Not eine Tugend zu machen. Bei Selbstironie gilt dieser Satz ganz besonders: Nichts wappnet besser, als das Schmunzeln über die eigenen Unzulänglichkeiten.
Christian Lindner hat dafür unlängst ein glänzendes Beispiel geliefert. Bei der Büttenrede zum traditionsreichen „Orden wider den tierischen Ernst“, der ihm am 17. Februar in Aachen verliehen wurde, zog er als Redner alle selbstironischen Register.
Lindner spielte die ihm zugedachte Rolle als Witzfigur im Käfig mit beeindruckender Souveränität: Als Redner mit Narrenkappe im traditionellen Narrenkäfig hat er sich sprichwörtlich selbst zum Narren gemacht. Und angesichts von Haartransplantation und krachender Wahlniederlage bot er in dieser Hinsicht auch genug Angriffsfläche.
Um diese Notlage dann in eine Tugend zu verwandeln, hat er — ganz im Sinne des Karnevals — die Realität auf den Kopf gestellt; er machte alle verfügbaren Witze über sich und seine Partei einfach selbst, inklusive einer erschreckend schamlosen Genscher-Parodie. Herausgekommen ist ein fulminantes Stück politisches Kabarett, von dem man sich im deutschen Witzfernsehen durchaus eine Scheibe abschneiden kann.
Nun ist Karneval aber sicherlich nicht jedermanns Freude, vor allem Büttenreden können leicht im Rohr krepieren. Diesen Beweis lieferte am gleichen Abend Günther Oettinger, der sich in Aachen ebenfalls am Humor versucht hat. Dabei herausgekommen ist eine „wilde, surreale Collage“, wie es die Frankfurter Allgemeine Zeitung nannte, dazu Fremdscham im Überfluss. An diesem nachgerade tragischen Auftritt sieht man sehr gut, dass nicht jeder Politiker mit den eigenen Unzulänglichkeiten so souverän umgehen kann wie Christian Lindner.
Die Lage zur Rede der Nation
von Daniel am 06.02.2014
Beinahe hätte es diesen Artikel nicht gegeben. Auf dem Plan stand eigentlich eine strukturelle Analyse der Regierungserklärung Angela Merkels, die sie vergangenen Mittwoch im Bundestag abgegeben hat. Leider bin ich nach fünfzehn Minuten eingeschlafen.
Das ist kein sprachlicher Allgemeinplatz. Ich bin tatsächlich eingeschlafen, wenn auch nur kurz. Die bleiernen Substantive der Kanzlerin haben mich geschafft. In der Nachmittagsschwere ein aussichtsloser Kampf. Mehr Langeweile wagen
kommentierte die Süddeutsche Zeitung, und ich stelle fest: Dieses Wagnis ist die Kanzlerin eingegangen, mit sichtbarem Erfolg.
Ein guter Grund, um über politische Rhetorik zu schreiben, denn das Wortspiel entlarvt die ganze Dimension des rhetorischen Dämmers. Wir denken sofort an das knarzige Pathos von Willy Brandts Wir wollen mehr Demokratie wagen
, ein zentraler Satz seiner ersten Regierungserklärung im Jahr 1969.
Nicht jede Regierungserklärung muss dieses Niveau halten. Aber man könnte es ja zumindest versuchen, wenn schon nicht mit Pathos, dann immerhin mit Originalität. Unvergessen hier Helmut Schmidt, der sich in der Regierungserklärung von 1976 über seine Wasserrechnung ärgert und dafür von Loriot verewigt wurde. Schmidt beschließt seine Auslassungen mit den zeitlos richtigen Worten: Das hat damit zu tun, dass es in den Büros, die das machen, Leute gibt, die sich nicht in die Lage anderer versetzen.
So auch im Kanzleramt.
Die wichtigste politische Rede der Welt
Im Ausland ist man da mutiger. Hier entfalten Regierungserklärungen eine enorme rhetorische Kraft, die einer Ära ihren Stempel aufdrücken: Das blood, sweat & tears
Winston Churchills etwa, oder John F. Kennedys ask what you can do for your country
. Man muss aber auch gar nicht auf diese historischen Filetstücke schauen. Es reicht ein Blick auf die tags zuvor gehaltene Rede Barack Obamas zur Lage der Nation.
Zugegeben: Die State of the Union ist die wichtigste politische Rede der Welt, der Super Bowl präsidialer Präsentation und die Champions League des Redenschreibens. Im Gegensatz zur bundesrepublikanischen Regierungserklärung wird sie vom Präsidenten sogar verfassungsmäßig eingefordert:
He shall from time to time give to Congress information of the State of the Union and recommend to their Consideration such measures as he shall judge necessary and expedient.
— Art. II, § 3
Das unterscheidet sie fundamental von ihrem deutschen Pendant: Während diese eher als Maßnahme zur Koalitionsdisziplin dient, ist jene eine ernstzunehmende Absichtserklärung des Präsidenten — und damit die konkrete Richtungsbestimmung für die kommende Legislaturperiode.
it’s the outline, stupid
Ein Vergleich lohnt aber trotzdem. Nicht beim Redeschmuck und den verwendeten Stilfiguren, auf die Rhetorik für gewöhnlich reduziert wird, sondern in einem Punkt, der für öffentliche Reden sehr viel wichtiger ist: Der Sinnzusammenhang und die Struktur, die sich dem Hörer unmittelbar erschließt. Denn ganz egal, in welchem Rahmen eine Rede gehalten wird — wenn sie gehört werden soll, muss der Hörer nicht nur die Ohren spitzen, sondern auch den Sinn verstehen.
Die Bundeskanzlerin handelt hier sorglos. Die Struktur erschließt sich gerade mal beim Lesen der Rede, aber auch nur dann dem geschulten Auge. Es wird nicht mal der Versuch unternommen, anschaulich zu erzählen oder das Auditorium für die eigene Sache zu begeistern. Man will zwar die Quellen des guten Lebens allen zugänglich machen
, wählt für diesen hohen Anspruch aber den niedersten Beamtenjargon. In den Worten der Süddeutschen Zeitung: Die Kanzlerin verknüpfte Altbekanntes mit Selbstverständlichkeiten — und streute jede Menge Plattitüden ein.
Wenn die State of the Union also dem Super Bowl der Champions League entspricht, ähnelt Merkels Regierungserklärung hier eher dem Freundschaftsspiel des Sportclubs Billerbeck mit der örtlichen Sparkasse.
Was genau macht aber Obamas Rede so gut? Es liegt tatsächlich weniger an den geschliffenen Formulierungen, sondern an der Struktur und der konsequente Anschaulichkeit, mit der die einzelnen Themen erzählt werden. Deshalb schreibe ich jetzt auch nicht mehr über die Regierungserklärung, sondern über die State of the Union, obwohl seitdem schon eine ganze Woche ins Land gegangen ist. Dafür ist sie aber immer noch schön zu hören, vor allem unter klassisch-rhetorischen Gesichtspunkten.
Einleitung
Das beginnt schon mit der Einleitung. Wo Merkel aus aktuellem Anlass, aber völlig zusammenhangslos etwas über die Ukraine erzählt, enthält Obamas Einleitung alles, was schon Cicero und Quintilian für ein gutes Exordium empfehlen: Aufmerksamkeit erregen, den Inhalt vorbereiten und die Hörer wohlwollend stimmen.
Obama macht das gekonnt durch einen Einstieg medias in res, einer Zusammenfassung von Erfolgen und Problemen und schließlich durch einen rhetorischen Kunstgriff, bei dem er nicht nur alle Erfolge dem Volk zuschreibt, sondern dabei auch die Rolle eines Volksdieners einnimmt, der Rechenschaft über seine Arbeit ablegt.
So heißt es direkt zu Beginn der Rede:
Today in America, a teacher spent extra time with a student who needed it, and did her part to lift America’s graduation rate to its highest level in more than three decades.
An entrepreneur flipped on the lights in her tech startup, and did her part to add to the more than eight million new jobs our businesses have created over the past four years.
An autoworker fine-tuned some of the best, most fuel-efficient cars in the world, and did his part to help America wean itself off foreign oil.
A farmer prepared for the spring after the strongest five-year stretch of farm exports in our history.
A rural doctor gave a young child the first prescription to treat asthma that his mother could afford.
A man took the bus home from the graveyard shift, bone-tired but dreaming big dreams for his son.
And in tight-knit communities across America, fathers and mothers will tuck in their kids, put an arm around their spouse, remember fallen comrades, and give thanks for being home from a war that, after twelve long years, is finally coming to an end.
In kurzen Spots wird hier mitten ins Leben geschaut. Dem Hörer wird bildlich vor Augen geführt, dass Amerika nach fünf Jahren Obama ein guter Ort zum Leben ist. Zum Vergleich: Bei Merkel heißt es dazu Heute können wir feststellen: Deutschland geht es so gut wie lange nicht.
So läuft das: In Amerika wird Glück erlebt, in Deutschland wird es festgestellt. Oder kann es festgestellt werden, wenn es denn nicht zu viel Umstände macht, immerhin räumt uns die Bundeskanzlerin die Möglichkeit dazu ein, also jeder wie er mag.
Im Vergleich dazu umgarnen Obamas Redenschreiber die Hörer mit Anschaulichkeit. Sie sind dabei noch nicht mal revolutionär, sonder wählen in guter rhetorischer Tradition einen klassischen Einstieg a loco, also abgeleitet vom Ort der gehaltenen Rede. Man kennt das: „Meine Damen und Herren, wer an diesem Ort eine Rede hält, der denkt sofort an…“ In diesem Fall ist dieser Ort aber nicht das Kapitol in Washington, sondern — das ist der legitime Anspruch der State — ganz Amerika. Adressat ist dementsprechend auch nicht etwa der Kongress, sondern das gesamte Volk:
Tonight, this chamber speaks with one voice to the people we represent: it is you, our citizens, who make the state of our union strong.
Das ist sicherlich präsidialer Pathos, aber angesichts der Grabenkämpfe zwischen Präsident und republikanischem Kongress auch eine sehr elegante Art zu zeigen, wer in der Politik das Sagen hat.
Es ist außerdem eine schlaue Demutsadresse. Nicht der Präsident, sondern das Volk hat diese Leistung erbracht. So heißt es anschließend: Here are the results of your efforts
und es folgt eine knappe Zusammenfassung erfreulicher Entwicklungen, abgeschlossen mit der Feststellung:
After five years of grit and determined effort, the United States is better-positioned for the 21st century than any other nation on Earth.
Aber kein Rechenschaftsbericht wäre komplett ohne Probleme und Herausforderungen, die es noch zu meistern gilt. Die gibt es, doch:
The question for everyone in this chamber, running through every decision we make this year, is whether we are going to help or hinder this progress.
Es folgt auch hier eine Zusammenfassung der Probleme, die die Kongressblockade der letzten Monate verursacht hat: Stillstand, Vertrauensschwund und soziale Ungerechtigkeit. Obama nennt hier zum ersten Mal das Leitmotiv seiner Rede beim Namen: Opportunity — das uramerikanische Ideal der unbegrenzten Möglichkeit.
And what I believe unites the people of this nation, regardless of race or region or party, young or old, rich or poor, is the simple, profound belief in opportunity for all – the notion that if you work hard and take responsibility, you can get ahead in America.
Genau dieses Ideal sieht Obama jedoch durch die republikanischen Hardliner im Kongress bedroht. Deshalb möchte er im Sinne seiner verfassungsrechtlichen Verpflichtung (s.o.) nun verschiedene measures präsentieren, die er für necessary und expedient hält:
What I offer tonight is a set of concrete, practical proposals to speed up growth, strengthen the middle class, and build new ladders of opportunity into the middle class.
Das ist — ganz klassisch rhetorisch — auch eine sogenannte propositio, eine kurze Vorwegnahme des Folgenden. Er schließt dabei ungewöhnlich autoritär:
But America does not stand still – and neither will I. So wherever and whenever I can take steps without legislation to expand opportunity for more American families, that’s what I’m going to do.
Das Auditorium ist nun passend vorbereitet. Obama hat die Ausgangslage erläutert und seine Ziele genannt, dabei Aufmerksamkeit erregt, den Inhalt vorbereitet und das amerikanische Volk wohlwollend gestimmt.
Erzählung
Der Einleitung folgt in klassischer Struktur die narratio, eine Erzählung, die das Leitmotiv der Rede erklärt und zum eigentlich Thema hinleitet. Auch das gelingt, und zwar mit Charme: As usual, our First Lady sets a good example.
Es wird ein Wohltätigkeitsprojekt zum sozialen Aufstieg von Michelle Obama und Jill Biden vorgestellt, das Chancengleichheit verspricht und beispielhaft für politische Arbeit im Dienste des amerikanischen Traums steht:
The point is, there are millions of Americans outside Washington who are tired of stale political arguments, and are moving this country forward. They believe, and I believe, that here in America, our success should depend not on accident of birth, but the strength of our work ethic and the scope of our dreams. That’s what drew our forebears here.
Nun werden drei Anwesende angesprochen, um in der Sache ganz beim Publikum zu bleiben:
It’s how the daughter of a factory worker is CEO of America’s largest automaker; how the son of a barkeeper is Speaker of the House; how the son of a single mom can be President of the greatest nation on Earth.
Der gesammelte Applaus ist Obama sicher. Er hat dabei nicht nur die Republikaner an Bord, die den Aufstieg ihres Speakers John Boehner würdigen, sondern natürlich auch die eigenen Demokraten. Im Klang dieses Jubels formuliert Obama seine zentrale These:
Opportunity is who we are. And the defining project of our generation is to restore that promise.
Der Spannungsbogen funktioniert, die zugespitzte Botschaft seiner Rede sitzt wie das Sahnehäubchen auf einem großen patriotischen Eisbecher.
Sachteil
Damit ist der Boden für die Sache bereitet. Es folgt also der Traktat, der umfangreiche Sachteil der Rede. Obama behandelt jetzt eine Vielzahl politischer Maßnahmen, die aber sinnvoll zusammengefasst werden: Erst Wirtschaftspolitik, dann Sozialpolitik, schließlich Außenpolitik.
Zunächst <a href=„http://en.wikipedia.org/wiki/It“ onclick=„_gaq.push([’_trackEvent‘, ‚outbound-article‘, ‚http://en.wikipedia.org/wiki/It‘, ‚the economy, stupid‘]);“ title=„Wikipedia: It’s the economy, stupid“ s_the_economy,_stupid“>the economy, stupid. Hier geht es um Steuerreform, Investitionen, Freihandel, Innovationen und Energiepolitik, im Wortsinne als Treibstoff der Wirtschaft. Anschließend, was den deutschen Sopo überrascht:
Finally, if we are serious about economic growth, it is time to heed the call of business leaders, labor leaders, faith leaders, and law enforcement – and fix our broken immigration system.
Migration als wirtschaftspolitisches Problem zu begreifen — das ist sehr anglo-amerikanisch, aber wohl auch im Sinne der überparteilichen Einigung ein versöhnendes Argument.
And for good reason: when people come here to fulfill their dreams – to study, invent, and contribute to our culture – they make our country a more attractive place for businesses to locate and create jobs for everyone.
Dieser Hinweis auf die Arbeitsplätze beschließt das Wirtschaftssegment in Form von zwei kleinen Geschichten, wieder aus der Mitte Amerikas: Die Erfolgsgeschichte einer Unternehmensgründerin in Detroit und das Arbeitslosenschicksal einer sorgenden Mutter. Obama nutzt das nahe liegende Pathos, um die Zuhörer zu bewegen — movere, wie auch Cicero schon fordert, wenn es um menschliche Schicksale geht. Vor allem die Geschichte der arbeitslosen Frau, die in einem Brief vom Präsidenten trotzig eine zweite Chance verlangt hatte, gibt Anlass für einen eindringlichen Appell:
Congress, give these hardworking, responsible Americans that chance. They need our help, but more important, this country needs them in the game.
Und ja: Hier schimmert Kennedys berühmtes Diktum der staatsbürgerlichen Verantwortung durch die Zeilen. Die Überleitung von hier zur Sozialpolitik fällt Hörern und Schreibern leicht:
Of course, it’s not enough to train today’s workforce. We also have to prepare tomorrow’s workforce, by guaranteeing every child access to a world-class education.
Auch das wird mit einer Geschichte veranschaulicht, und zwar durch die erfolgreiche Bildungsbiographie eines lateinamerikanischen Einwanderers aus New York. Es folgt ein Aufruf zur Bildungsreform, zum Breitbandausbau und zur Ausbildungsförderung. Dem folgt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Gleichstellung, das in seiner Klarheit und Überzeugungskraft völlig zu Recht den lautesten Jubel des Abends erntete:
Today, women make up about half our workforce. But they still make 77 cents for every dollar a man earns. That is wrong, and in 2014, it’s an embarrassment. A woman deserves equal pay for equal work. She deserves to have a baby without sacrificing her job. A mother deserves a day off to care for a sick child or sick parent without running into hardship – and you know what, a father does, too. It’s time to do away with workplace policies that belong in a “Mad Men” episode. This year, let’s all come together – Congress, the White House, and businesses from Wall Street to Main Street – to give every woman the opportunity she deserves. Because I firmly believe when women succeed, America succeeds.
Wer würde im deutschen Bundestag schon eine „Mad Men“-Referenz wagen? Vermutlich die wenigsten, weil populäre Kultur den meisten als unseriös gilt.
Obama erweitert jetzt den Fokus ungerechter Bezahlung und spricht vom allgemeinen Mindestlohn. Auch das wird durch eine Geschichte veranschaulicht: Ein Pizzabäcker aus Minneapolis zahlt seinen Angestellten freiwillig das gerechte Gehalt — und sitzt deshalb während der Rede auf der Ehrentribüne. Auch hier ist der Appell klar:
Of course, to reach millions more, Congress needs to get on board.
Nun wird die Sozialversicherungen abgehandelt, dabei natürlich auch Obamacare, das wieder mit einer kurzen Geschichte über eine gesundete Arbeiterin veranschaulicht wird. Hier bietet sich natürlich Schelte an, diesmal mit leiser Ironie:
Now, I don’t expect to convince my Republican friends on the merits of this law.
Obama schafft es aber auch hier überparteilich zu werden: Er verweist auf den republikanischen Gouverneur von Kentucky — not the most liberal part of the country
- der aus Gründen der solidarischen Verbundenheit für die Krankenversicherung gestimmt hat. Und damit ist er bei einem Unterthema der Sozialpolitik: Citizenship.
It’s the spirit of citizenship – the recognition that through hard work and responsibility, we can pursue our individual dreams, but still come together as one American family to make sure the next generation can pursue its dreams as well.
Mit einer wirkungsvollen Wortfigur beschließt Obama die Sozialpolitik: Durch Merisma (gedankliche Aufteilung) und Anapher (einläutenden Wortwiederholung) erläutert Obama am Gedanken des Citizenship seine Einstellung zu Wahlrecht, Waffenrecht und Gemeinschaftssinn.
Citizenship means standing up for everyone’s right to vote.
[…]
Citizenship means standing up for the lives that gun violence steals from us each day.
[…]
Citizenship demands a sense of common cause;
Der Dienst am Gemeinwohl ist eine passende Überleitung zur Armee, und damit ist Obama beim dritten Block des Sachteils, der Außenpolitik. Er gibt einen Überblick über die Kriegs– und Konfliktschauplätze mit amerikanischer Beteiligung, wobei hier vor allem der patriotische Dienst der amerikanischen Soldaten im Mittelpunkt steht. In diesem Zug werden auch die Themenfelder Drohnen und Spionage kurz abgehandelt, nur um — sehr geschickt — anschließend ein Loblied auf die multilaterale Diplomatie zu singen, als Verhinderin von Kriegen. Hier verteidigt Obama auch sehr gelungen seine Verhandlungen mit dem Iran:
If John F. Kennedy and Ronald Reagan could negotiate with the Soviet Union, then surely a strong and confident America can negotiate with less powerful adversaries today.
Die imperiale Außenpolitik Amerikas wird daraufhin in vielen Aspekten beleuchtet und in diesem Sinne auch als Mittel präsentiert, überall auf der Welt Gutes zu tun und humanitäre Hilfe zu leisten:
Finally, let’s remember that our leadership is defined not just by our defense against threats, but by the enormous opportunities to do good and promote understanding around the globe.
In diesem Sinne widmet Obama sich abschließend noch einmal der Armee als Gehilfen dieser Agenda und rundet den Teil über Außenpolitik, und damit auch den großen Sachteil der Rede mit einer eindrucksvollen Geschichte ab: Er erzählt vom Army Ranger Cory Remsburg, der durch eine Kopfverwundung lange im Koma lag und sich nur mühsam ins Leben zurückgekämpft hat. Obama geht ins Detail, fesselt die Hörer mit dem harten Schicksal des Soldaten und endet schließlich mit einer passenden Moral:
“My recovery has not been easy,” he says. “Nothing in life that’s worth anything is easy.”
Cory is here tonight. And like the Army he loves, like the America he serves, Sergeant First Class Cory Remsburg never gives up, and he does not quit.
Der sichtlich vom Krieg gezeichnete Soldat und die aufwühlende Geschichte verfehlen nicht ihre Wirkung. Das gesamte Haus erhebt sich und auch der Präsident selbst applaudiert dem Veteranen auf der Ehrentribüne, mehrere Minuten lang.
Schluss
Nach diesem großen Applaus ist der lange Sachteil beendet, es folgt ein relativ kurzer Schluss. Aber wo Obama sonst für gewöhnlich ein rhetorisches Feuerwerk abbrennt und seinen Appell in energische, pathosgeschwängerte Satzkaskaden kleidet, wird er an dieser Stelle ganz ruhig und nimmt die Ergriffenheit über das Soldatenschicksal mit in sein Resümee:
My fellow Americans, men and women like Cory remind us that America has never come easy. Our freedom, our democracy, has never been easy. Sometimes we stumble; we make mistakes; we get frustrated or discouraged.
But for more than two hundred years, we have put those things aside and placed our collective shoulder to the wheel of progress – to create and build and expand the possibilities of individual achievement; to free other nations from tyranny and fear; to promote justice, and fairness, and equality under the law, so that the words set to paper by our founders are made real for every citizen.
The America we want for our kids – a rising America where honest work is plentiful and communities are strong; where prosperity is widely shared and opportunity for all lets us go as far as our dreams and toil will take us – none of it is easy. But if we work together; if we summon what is best in us, with our feet planted firmly in today but our eyes cast towards tomorrow – I know it’s within our reach.
Believe it.
Damit ist die große Rede zur Lage der Nation beendet, nicht auf lautem Hurra, sondern auf einer leisen Note der Hoffnung — das zentrale Motiv Obamas Präsidentschaft.
Gutes Handwerk
Es ist eine große Leistung der Redenschreiber, dass man diese ganze Stunde gebannt zuhören kann. Es ist aber auch kein Hexenwerk. Die Autoren befolgen nur konsequent alle rhetorischen Ratschläge, die man seit 2000 Jahren bei einschlägigen Autoren wie Aristoteles, Cicero oder Quintilian und meinetwegen auch bei späteren Abschreibern nachlesen kann. Dort steht unmissverständlich, dass eine gute Rede nicht nur belehren, sondern auch bewegen und unterhalten muss. Dass eine gute Einleitung die Hörer empfänglich macht und deshalb schon die halbe Miete ist. Dass über Schicksale und Sachverhalte in unterschiedlichen Stilhöhen geschrieben werden muss. Und dass die Struktur einer Rede für ihren Erfolg entscheidend ist: in diesem Fall eine zusammenfassende Einleitung, eine unterhaltende Erzählung, ein belehrender Sachteil und ein bewegender Schluss.
Wenn die Regierungserklärung in Deutschland die Menschen also tatsächlich wieder erreichen soll, dann muss das Handwerk besser werden. Dieses Handwerk heißt aber nicht Politik, sondern Rhetorik. Dazu muss man sich in den Büros im Kanzleramt wieder in die Lage anderer versetzen. Helmut Schmidt arbeitet ja leider nicht mehr dort.
Salonsozialisten
von Daniel am 11.12.2013
Schadet es dir, wenn du als Salonbolschewist verkleidet einhergepoltert kommst? Gar nicht.
- Kurt Tucholsky, Berliner Geselligkeiten
Am Vorabend der sozialistischen Revolution geht es noch einmal zu McDonalds. Nachdem auf dem diesjährigen Bundeskongress der Jusos das Arbeitsprogramm „Morgen links leben“ verabschiedet wurde, an prominenter Stelle mit dem Ziel, das kapitalistische System zu überwinden
, möchte man vorher noch einmal den Geschmack der großindustriellen Nahrungsmittelproduktion genießen. Wieso auch nicht, die bessere Welt wurde bereits beschlossen, und mit Beschlusslagen ist in der Politik nicht zu spaßen.
Damit die Beschlusslage stimmt, organisieren die Jusos einmal im Jahr den großen Bundeskongress, auf dem mehr als 300 Delegierte aus allen Teilen der Bundesrepublik Politik für junge Menschen machen wollen. Dieses Jahr hat man in Nürnberg getagt, in der mittlerweile verlassenen Zentrale des abgewickelten Quelle-Konzerns. Ich war dieses Mal Teil der NRW-Delegation, mein Kölner Unterbezirk stellt heuer ganze 9 Delegierte — mehr als der Landesverband Brandenburg oder der in Mecklenburg-Vorpommern.
Überhaupt ist Köln eine kleine Besonderheit in Nordrhein-Westfalen. Wie bei jeder Partei gibt es auch bei den Jusos verschiedene Strömungen, genau genommen drei: Das Netzwerk Linkes Zentrum (NWLZ), die Traditionalisten (Tradis) und die Pragmatische Linke (PL). Und während nun fast ganz Nordrhein-Westfalen vom Linken Zentrum besetzt wird, ist Köln eine Enklave der Pragmatiker. Ein kleines rheinisches Dorf gewissermaßen, das nicht aufhört Widerstand zu leisten.
Gegen den Strom
Für Außenstehende muss man das vielleicht erklären: An diesen Strömungen scheidet sich auch das Selbstverständnis der Jusos. Für die sogenannte „Gesamtlinke“, Tradis und NWLZ, bedeutet Jusos „Jungsozialisten“, also das ganze dunkelrote Programm mit Marx, Engels und der internationalen Solidarität. Für die Pragmatiker ist es die Abkürzung für „Junge Sozialdemokraten“, man ist hier im allgemeinen weniger nostalgisch. Damit sind auch die Fronten klar, es teilt sich gewissermaßen an der „Godesberger Linie“: Hier die sozialistische Arbeiterjugend im Klassenkampf, dort die junge Volkspartei mit realpolitischer Initiative. Demografisch ist es dabei ironischerweise genau umgekehrt: Die Gesamtlinke besteht größtenteils aus Mittelschicht-Studenten geisteswissenschaftlicher Couleur, während man bei den Pragmatikern häufig Menschen findet, deren Erwerbsbiographie bereits eine gewisse Belastbarkeit entwickelt hat.
Der faktische Unterschied zwischen Tradis und Linkem Zentrum bleibt dabei akademisch und entsteht oft nur regional oder aufgrund leicht abweichender Marx-Exegese. Ein Genosse erklärt es mir auf der Busfahrt nach Nürnberg: Die vom NWLZ tragen auch schon mal Klamotten von H&M.
In der Sache sei man sich aber einig: Der Kapitalismus müsse weg, Diskriminierung auch und ganz allgemein habe die Welt von morgen ein Gleichstellungsfanal zu erfahren, das alle menschlichen Unterschiede auflöse in ein Kollektiv harmonierender Stoffwechsler.
Was hier an Strömungsdetails albern und irrelevant klingen, erlebe ich dann nach fünfstündiger Anreise an drei Tagen in einer theatralischen Dimension, die an Absurdität und Wahnwitz nur schwer zu überbieten ist. Vor allem erlebe ich es aber als handfeste Diskriminierung. Das ist für einen weißen, privilegierten Mann eine sehr überraschende Erfahrung. Zumal ich nicht wusste, dass sich die Strömungsfronten bis in die Organisationsinstitutionen des Verbands verlängern und man als Andersdenkender geradezu aktiv verachtet wird.
Im Vorfeld habe ich es deshalb erst mal für ein Versehen gehalten, dass ich als Ersatzdelegierter auf einem relativ aussichtsreichen Listenplatz nicht über meinen möglichen Einsatz informiert wurde. Bis mich dann eine Bekannte aus einer der anderen Strömungen anschrieb, ob ich denn ebenfalls in Nürnberg dabei wäre. Dass die junge Dame auf der Ersatzliste knapp 10 Plätze hinter mir stand, fand ich seltsam, denn scheinbar hatten auch andere Strömungsgenossen weit vor mir auf der Liste noch keine Benachrichtigung bekommen. Nach kurzer offizieller Nachfrage beim NRW-Landesbüro ging es dann aber ganz schnell: Alle Ersatzdelegierten der PL, so stellte es sich nachher heraus, wurden im Minutenabstand angerufen und informiert. Es schien, als würde eine Liste abtelefoniert. Es ist ein sehr seltsames Gefühl, auf einer politischen Liste zu stehen.
Kabale und Hiebe
Aber so läuft es auf Juso-Bundesebene, das weiß ich jetzt. Im Gegensatz zur politischen Arbeit an der Basis geht es hier nicht um Argumente, sondern um Stallgeruch. „Wir gegen die“ lautet die Strömungsdevise, gut (Tradi & NWLZ) gegen böse (PL). Dabei werden in einer überraschend schamlosen Weise schmutzige Tricks angewandt, die einer höfischen Kabale in nichts nachstehen. Vor allem die durch und durch realpolitisch orientierte Delegation aus Hamburg wird auf Bundesebene regelrecht geächtet. Ich wundere mich noch beim Schreiben dieses Textes, wie ein derartiges Verhalten mit den hochgehaltenen Werten von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang gebracht werden kann. Entweder werden hier beide Augen zugedrückt, oder man ist derart selbstgerecht, dass der Zweck die Mittel heiligen darf.
Das wird besonders offensichtlich bei den Vorstandspersonalien, die unter der harten Fuchtel der Gesamtlinken stattfinden. Jetzt könnte man ja als Außenstehender meinen, dass die PL bei einem knappen Drittel aller Delegierten im Vorstand vertreten sein müsste, wenn man denn Diversität und Meinungsvielfalt ernst nähme. Ist sie aber nicht, die neue Vorsitzende Johanna Uekermann erklärt bei ihrer Vorstellungsrunde auch warum: „Einen Platz im Bundesvorstand muss man sich verdienen.“ In anderen Worten: Da könnte ja jeder kommen. Vielleicht werde ich das Argument mal aufgreifen, wenn es um andere Quoten geht. Ich könnte dann sagen: Einen Platz im Aufsichtsrat muss man sich verdienen. Das würde die Diskussion sicherlich spannend machen.
Wirklich fassungslos werde ich dann aber bei der Wahl für den Bundesvorsitz am Freitag Abend. Im Vorfeld wurde bereits durch den alten Vorstand die Nachfolgerin verordnet — in einer Weise, die die Kandidatenfindung Peer Steinbrücks nachgerade basisdemokratisch erscheinen lässt. Die befohlene Erbfolge gipfelte dabei in einem taz-Artikel, der Uekermann Wochen vor dem Kongress bereits zur neuen Vorsitzenden erklärte. Vielleicht durfte sie deshalb auch das Arbeitsprogramm vorstellen, sie bekommt auf diese Weise jedenfalls mehr als doppelt so viel Zeit die Delegierten zu umschmeicheln. Wobei sie das eigentlich nicht nötig hat, die Wahl an sich ist wegen der einbetonierten Mehrheiten ohnehin weitgehend bedeutungslos. Der Gegenkandidat aus der PL, Hauke Wagner, entspricht nämlich so gar nicht der sozialistischen Richtlinie: Realpolitiker, Industriemanager, Verheiratet, Hamburg. Außerdem will er die Große Koalition, gewissermaßen als Sahnehäubchen auf der Henkersmahlzeit. Wie verhasst so jemand ist, merke ich bei seiner Rede: Mit echter Überzeugung hebt er entschlossen die Faust und ruft in den Saal: „Kein Fußbreit dem Faschismus!“ — und erntet betretenes Schweigen bei den linken Strömungen. Ich frage mich, wie verbohrt man sein muss, um als Linker bei so einem Satz nicht zu klatschen. Man weiß es nicht, man ahnt es aber.
Man sieht es auch später wieder bei einem Antrag aus Hamburg. Eine Azubi-Gruppe soll eingerichtet werden, was natürlich nicht sein kann, weil man aus Hamburg keinen Antrag duldet. Deshalb treten ein paar Schüler ans Mikro, reden von Parallelstrukturen und behaupten, die Schülergruppe der Jusos würde sich ja um die Azubis kümmern. Dann fällt noch das Mikro aus, als ein Hamburger den Antrag verteidigen will, und schon sind zwei Drittel im Saal der Meinung, dass die Jungsozialisten der ältesten Arbeiterpartei Deutschlands kein Angebot für den betrieblichen Nachwuchs brauchen.
Das ist nicht nur grotesk, sondern auch tiefenironisch: Bei einem Verband, der so oft von „Überzeugung“ spricht, ist die Überzeugung im Diskurs nicht vorgesehen. Hier gibt es richtig und falsch, einsehen und einknicken. Echte Toleranz, also die vorbehaltlose Akzeptanz der Möglichkeit einer anderen Wahrheit, sucht man vergebens.
Moralisches Theater
Es wird auf dem Kongress ohnehin viel geheuchelt. Während vorne die Abkehr vom kapitalistischen System gefordert wird, kann man sich in der Vorhalle des Plenums bei den Lobbyständen der Deutschen Bahn und der Telekom beraten lassen, eine Versicherung abschließen oder XBox spielen. Ich selbst habe weder Probleme mit der Deutschen Bahn (bis auf die obligatorischen Verspätungen), noch mit der Telekom oder einer XBox, aber ich behaupte einfach mal, dass nichts davon im Sinne der sozialistischen Revolution ist. Auch die Unterbringung der Delegation im Livestyle-Hotel mit Design-Interieur ist mir allemal lieber als die schäbigen Lagerhäuser, in denen Marx und Engels über den Arbeiteraufstand diskutierten, aber auch hier könnte man als echter Sozialist kritisch den Finger heben. Als Kulisse für das denkwürdige Schauspiel, bei dem eine Gruppe privilegierter Studenten über die Unterdrückung durch die Bourgeoisie schwadroniert, entwickelt dieses Ambiente dann aber einen ganz eigenen Charme.
In dieses Theater tritt dann wenig später ein Marxist und möchte eine Antragsdiskussion mit den Worten beenden: Die Klassengesellschaft ist ein Fakt!
Das heißt natürlich nichts anderes als: Meine Position ist alternativlos
, wobei er das so vermutlich nicht gesagt haben wollen würde. Kurz ringe ich deshalb mit dem Gedanken der Konfrontation. Argumente gegen den historischen Materialismus gibt es genug, und auch die Klassengesellschaft ist in Zeiten der millieubasierten Identifikation und Erosion proletarischer Lebenswelten alles andere als faktisch.
Ich hole mir dann aber doch nur einen Kaffee, es nützt ja alles nichts. Die Tasse kostet stolze zwei Euro, überhaupt sind die Getränke auf dem Kongress allesamt sehr teuer. Vermutlich um die Leiden der Produktionskräfte durch die Entfremdung von ihren Erzeugnissen zu lindern. Vielleicht hatte man aber auch einfach keine Zeit, günstiges Catering zu bestellen. So entsteht zumindest auf dem Kongress eine Teilung in Buffetbourgeoisie und Mitbringproletariat, die dem Klassenkämpfer auf der Bühne gefallen würde. Und da ich unter all den Studenten als Arbeitnehmer mit geregeltem Einkommen bereits zum Großkapital gehöre, kaufe ich gleich noch eine Packung Nürnberger Lebkuchen für 8,50 Euro dazu. Was soll der Geiz, man lebt nur einmal.
Apropos Geiz: Man geizt hier nicht mit moralischen Urteilen. Besonders moralinsauer wird es bei einem Genderthema, bei dem ein pragmatischer Genosse doch anmahnt, die Welt nicht in schwarz und weiß zu spalten, sondern auch Grauzonen zuzulassen. Eine angestrengt wirkende Frau stapft umgehend ans Mikro und zetert in den Saal, die Welt sei zwar nicht schwarz und weiß, aber trotzdem böse. Damit ist die Debatte dann auch beendet, denn natürlich will niemand dem Bösen Vorschub leisten. Überhaupt gibt es Killerphrasen im Sonderangebot. Genosse Jungiligens aus Mönchengladbach hat hier sogar die ultimative BuKo-Kompilation gewagt. Mein Vorschlag wäre kürzer, vielleicht: „Wir sind ein istischer, istischer und istischer Richtungsverband, Nossenunnossen, so geht es doch nun wirklich nicht!“ Damit könnte man sicher den ein oder anderen Schlagabtausch gewinnen — wenn man nicht das Stigma des Pragmatikers trägt.
Freund und Feind
Dass diese überhaupt nicht gerne gesehen werden, sieht man spätesten beim Besuch von Sigmar Gabriel. Der macht eigentlich nichts anderes als der alte Juso-Bundesvorsitzende Vogt am Tag zuvor: Er steht auf der Bühne und findet die Große Koalition gut. Trotzdem wird jener geradezu liebevoll verabschiedet, während man diesen mit Spott und Verachtung überschüttet. Gabriel gibt sich dabei aber unerschütterlich und liest den Jusos die realpolitischen Leviten. Im Kern zeigt sich auch hier wieder das Problem der binären Teilung in Freund und Feinde: Gabriel behandelt die Koalition wie ein Geschäft mit dem politischen Gegner, für viele Jusos aber ist sie der Verrat an den politischen Feind.
Das ist wohl ein grundlegendes Problem: Im Klassenkampf gibt es keinen sportlichen Kontrahent, sondern nur feindliche Unterdrücker. Vielleicht ist das beschlossene Programm auch deshalb so negativ: Es will alles mögliche bekämpfen, abschaffen, aufbrechen oder überwinden. Das alles aber nicht etwa wortgewaltig und mit dem Pathos eines politischen Manifests, sondern sehr im Fachjargon beschränkt und mit der beiläufigen Aggressivität einer zerbröselnden Ehe. Als ob der Autor beim Schreiben schlechte Laune gehabt hat.
Passenderweise soll kurze Zeit später die Ehe abgeschafft werden, sie sei ein patriarchalisches Konstrukt. Meine stumme Frage, ob das auch für die Homoehe zweier Frauen gelte, wird nicht beantwortet. Es scheint aber, dass man die Homoehe trotzdem einführen will, damit man sie nachher mit allen anderen Eheformen abschaffen kann. Ähnliches gilt für die Frauenquote, die man natürlich will, obwohl man auch gleichzeitig soziale Geschlechterkonstruktionen überwinden möchte. Auf Nachfrage werde ich aber aufgeklärt: Man möchte erst die Quote und dann die Entschlechtlichung. Das Wort gibt es nicht, ich habe es mir gerade ausgedacht, aber es passt so schön in den soziologischen Wortzirkus, der sich Antragsdebatte nennt. Der Einwand allerdings, dass es ja nun wenig sinnvoll sei, wenn man beispielsweise Legosteine erst gleichmäßig nach Farben verteilt, nur um sie nachher alle weiß zu lackieren, wird nicht ernst genommen. War er auch nicht gemeint, ich halte die weibliche Quote prinzipiell für eine gute Sache. Trotzdem bin ich immer wieder überrascht, wie wenig Humor bei solchen Themen erlaubt ist. Aber vielleicht darf man in einer bösen Welt auch einfach keine Witze machen.
Dabei könnte auch der Bundeskongress mit einer Quote ein Stück gerechter werden: Durch Regionalproporz bei Antragsbeschlüssen zum Beispiel. Oder durch Strömungsquotierung im Vorstand, wie es ja bei der grünen Doppelspitze der Fall ist. Das würde aber vermutlich niemals freiwillig beschlossen werden, weil hier einer der ältesten sozialen Mechanismen der Menschheitsgeschichte greift: Machterhalt. Denn so obrigkeitskritisch und antihierarchisch man sich auf dem Kongress gibt — die Regionalfürsten der Jungsozialisten sind Platzhirsche mit eisenharten Manschetten. Ihre Machtpolitik steht dem innerparteilichen Ränkespiel in nichts nach. Mit welchen perfiden Tricks auch auf dem Bundeskongress Mehrheiten organisiert und verteidigt werden, hat der Genosse Yannick Reuter unlängst in einem Blogbeitrag gemutmaßt: Übervorteilungen, Absprachen, Satzungstricks bis hin zu technischer Sabotage.
Es ist natürlich schwer, hier juristisch einwandfrei eine tatsächliche Absicht nachzuweisen, das gelänge vermutlich nur mit kriminalistischen Mitteln. Trotzdem ist es auffällig, wie viele solcher Einzelheiten sich zu einem Ganzen fügen, und wie deutlich diese Einzelheiten von den unterschiedlichsten Menschen wahrgenommen werden. Der Genosse Reuter beispielsweise verweigert sich ausdrücklich der Strömungspolitik und sympathisiert mit keiner Fraktion, beobachtet das ärmliche Schauspiel aber trotzdem (oder deswegen) mit Schaudern.
Spricht man die Leute darauf an, wird weitgehend abgewiegelt. Es gehe ausschließlich um Inhalte, man müsse doch fair bleiben und so weiter. Ich frage mich, ob das an tatsächlicher Überzeugung, simpler Naivität oder gerissener Verschlagenheit liegt. Vielleicht ist es aber auch nur eine Form von Betriebsblindheit, die das eigene Handeln nur noch unzureichend reflektiert. Der Delegationsleiter von NRW zum Beispiel hat eine sehr raumgreifende Persönlichkeit und ist sehr von seinen politischen Qualitäten überzeugt. Vielleicht ist das der Grund, weshalb er Einwände und Zweifel von außerhalb gerne mit jovialer Geste wegwedelt. Die Überzeugung hilft ihm jedenfalls dabei, vor dreihundert Delegierten sturzbetrunken auf die Bühne zu schlendern und Trivialitäten über den scheidenden Vorsitzenden zu erzählen. Das muss man können, und das muss man wollen.
Der Sozialismus, ein Insiderwitz
An diesem samstagabendlichen Programmpunkt findet ohnehin eine symbolische Verdichtung statt, von der man als Journalist nur träumen kann. Es wird fast der gesamte Bundesvorstand entlassen und jeder einzelne Abschied durch interne Anekdoten, Einspielfilmchen oder Musik gefeiert. Die ganze Zeremonie dauert geschlagene drei Stunden, bis um 23.00 Uhr schließlich der schleswig-holsteinische Landeschef Ralf Stegner auf die Bühne tritt, um eine halbstündige Abschiedslaudatio auf Sascha Vogt zu halten. Zu diesem Zeitpunkt sind bereits ein Großteil der Anwesenden ernsthaft verärgert, weil sie als einfache Delegierte die meisten Geschichten und Personen kaum oder gar nicht kennen und den Kongress eigentlich seit 20.00 Uhr beim Verbandsfest ausklingen lassen wollten. Aber die Bundesfunktionäre kreisen im Geiste um sich selbst. Nur so ist es zu erklären, dass man rund 200 Außenstehenden den Abend versaut, indem man einem dreieinhalbstündigen Insiderwitz erzählt.
So steigt die Feier erst um Mitternacht, was den nächsten Tag nicht unbedingt einfacher macht. Kurz vor Schluss wird nämlich noch einmal der Geist von Rosa Luxemburg heraufbeschworen, die laut Antragstellerin auch noch knapp 100 Jahre nach ihrem Tod zeitgemäße Antworten für die Probleme des 21. Jahrhunderts bieten soll: Man beschließt mit viel gendertheoretischem Brimborium die Teilnahme am Frauenkampftag. Eine Genossin aus Münster äußert im kleinen Kreis die Hoffnung, es könnte dabei ja vielleicht auch um Schlammcatchen gehen, wird dafür aber pflichtbewusst mit einem Grinsen kritisiert.
Schließlich ist es geschafft: Der Kongress hat ein Ende, der Kapitalismus bald hoffentlich auch und man fährt müde in die jeweilige Heimat zurück. Beschlossen wurde einiges, obwohl die Mehrheiten fast immer entlang der Strömungsfronten verliefen und eine integre linke Politik natürlich anders aussieht. Es bleibt zum Beispiel offen, wie die Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise mit der zeitgleich erhobenen Forderung nach „Smartphones für alle“ verbunden werden kann. Es bleibt offen, wie sich die Forderung nach Gleichheit und Inklusion mit der Isolation eines knappen Drittels der Delegation verträgt. Und natürlich bleibt es offen, wie man nach drei Tagen im Sozialistenzirkus freimütig bei McDonalds einkehren kann. Doch das sind Fragen, die sich die meisten Delegierten nicht stellen. Nicht heute, man will ja erst „Morgen links leben“.
Ich persönlich beiße am Sonntagabend jedenfalls herzhaft in meinen Burger, ich habe ja gegen die Abschaffung des Kapitalismus gestimmt. Am genüsslichen Mampfen der anderen glaube ich erkennen zu können, dass es vielen gar nicht so Unrecht ist, wenn der Kapitalismus noch ein paar Tage durchhält. Im Sozialismus gibt es sicher keinen Big Tasty.
Beim Entsorgen der Delegiertenunterlagen nehme ich mir aber trotzdem fest vor, in einem Jahr mal nachzuschauen, was aus den ganzen Anträgen geworden ist. Vermutlich nichts, so war es auch in den vergangenen Jahren. Den einzig nennenswerten Mehrwert für die Gesellschaft leistet der Juso-Bundesverband im Nachwuchsbereich: Die meisten Funktionäre werden durch Seilschaften in irgendwelche Positionen gehievt und retten damit nicht selten ihre brüchige Biografie. Auch Johanna Uekermann wird wohl am Ende ihrer Juso-Karriere in irgendeinem Parteiamt landen, so wie Vogt und die meisten Juso-Vorsitzenden vor ihm. Ein Genosse bemerkte am Wochenende dazu zynisch, dass sei im Grunde doch im Sinne der sozialdemokratischen Arbeiterwohlfahrt: Menschen zu helfen, die auf dem Arbeitsmarkt Probleme haben. Aber auch wenn man freundlicher darüber reden will, regt sich Zweifel: Wie nah am Volk bleibt eine Volkspartei, wenn sich ihre Funktionäre ausschließlich aus den eigenen Kaderschmieden rekrutieren? Und wie zukunftssicher ist die Nachwuchsarbeit einer überalterten Partei, wenn jedes Jungmitglied automatisch einem Verband sozialistischer Hardliner zugeordnet wird?
Im roten Salon
Für zwei Drittel der Jusos stellt sich die Frage nicht. Je enger man mit der eigenen Ideologie verflochten ist, desto weniger spielt die Realpolitik eine Rolle. Im Grunde ist es wohl ein Spiel: Wer die Regeln kennt, wer die Sprache spricht, wer die Kontakte pflegt, der gewinnt am Ende ein Amt, eine Funktion oder zumindest Anerkennung in den eigenen Reihen. Der eingangs zitierte Salonbolschewist, den Kurt Tucholsky in seinen Werken gerne verspottet, findet man hier in bester Definition des Duden: Als jemand, der sich für die Theorien des Bolschewismus begeistert, sie aber in der Praxis nur dann vertritt, wenn er dadurch nicht auf persönliche Vorteile verzichten muss.
Aber so verbittert das alles auch klingen mag: Die echte und gute sozialdemokratische Politik für junge Menschen wird vor allem an der Basis gemacht. In den Unterbezirken, den Stadtbezirken und den Arbeitsgemeinschaften ist man glücklicherweise weit entfernt von den roten Parolen aus einer Zeit, in der man die Verdammten dieser Erde noch tatsächlich zum Hungern gezwungen hat. Das beruhigt mich nachhaltig.
Und so bleibt vom Bundeskongress die Erinnerung an eine überraschend reaktionäre Veranstaltung, mit wenig Relevanz für die Menschen und das Morgen. Man hat die Gesellschaft mit 150 Jahre alten Theorien erklärt, man hat Ungerechtigkeit in schwierigen Worten beschimpft, man hat sich auf Autoritäten aus den vergangenen zwei Jahrhunderten berufen und man hat eine Arbeiterfolklore gefeiert, die schon in den Achtzigern anfing zu rosten. Immer wieder wurde das Mantra des istischen-istischen-istischen Richtungsverbands heruntergebetet und damit um billigen Applaus gebuhlt. Immer wieder wurden komplizierte Wörter aufeinander getürmt, mit denen man die Welt in letzter Instanz erklären will.
Das beschlossene Programm ist deshalb auch keine akute Hilfe für Hilfsbedürftige, keine konkrete Gesellschaftsanalyse, sondern ein nostalgisches Wolkenkuckucksheim voller akademischer Absichtserklärungen, ein kollektives „Man müsste mal“ und „So geht es nicht“, dabei aber so weit entfernt vom Alltag der jungen Menschen wie die Sexualmoral der römischen Kardinalskurie.
Wobei man in Rom mittlerweile progressiver denkt. Zwar haben die Delegierten auch dieses Mal am Ende fleißig gesungen: Es hilft uns kein Gott, kein Kaiser noch Tribun
— der bessere Kapitalismuskritiker aber, so scheint es in diesen Tagen, ist der Papst in Rom. Das muss zu denken geben.
C für Coldplay.
von Daniel am 05.03.2013
Jetzt also die Homoehe. Nachdem unlängst das Bundesverfassungsgericht mit einem sehr eindeutigen Urteil die Adoptionsrechte für homosexuelle Eltern gestärkt hat, will die Union nun „in Sachen Gleichstellung beweglicher werden“. Nach Wehrpflichtwende, Mindestlohnwende und Energiewendewende steht der CDU nun also die Homowende ins Parteihaus. Obwohl man in Berlin und München ab– und wieder anwiegelt, ist das nur der nächste Schritt in einer Reihe von Winkelzügen, mit der die Bundeskanzlerin ihrer Partei die größtmögliche Wählerschaft verschaffen möchte. Wahlen werden in der Mitte gewonnen, das weiß man auf beiden Seiten des politischen Spektrums.
Der themenorientierte, aufgeklärte und freiheitlich denkende Mensch ist nun geneigt zu lächeln, da die Homoehe für ihn eine gute Sache ist — ganz gleich, welche Partei nun einen Änderungseintrag ins Parlament einbringt. Er mag hinzufügen: Umso besser wenn es die Koalitionsparteien sind, dann wird der Antrag besonders schnell beschlossen.
Dieses Lächeln gefriert allerdings, wenn plötzlich die soziale Kälte dieser Kehrtwende ins Bewusstsein kriecht. Anders als Energie– oder Lohnpolitik berührt die Frage nach der Homoehe nämlich etwas, das eigentlich nicht Teil der parteilichen Machtspielchen sein sollte: Die Menschenwürde.
Bei der Energiewende konnte noch gutmütig unterstellt werden, dass erst angesichts der dramatischen Bilder aus Fukushima das ganze Potential atomaren Risikos bewusst wurde. Ein zweites Tschernobyl, allerdings in einem der modernsten Industrieländer unserer Erde. Da musste selbst Herr Keitel vom BDI schlucken.
Das Umdenken — andere sagen Einknicken — bei Wehrpflicht und Mindestlohn dagegen waren vollends taktische Manöver. Ganz in der Tradition des alten Adenauers ist der Bundeskanzlerin das Geschwätz von gestern herzlich gleichgültig, wenn man damit dem Gegner den Wind aus den roten Segeln nehmen kann. Merkel ist wie keine andere Politikerin eine ideologiebefreite Strategin, ihr politisches Handeln scheint nahezu ausschließlich pragmatisch kalkuliert: Welches Thema bringt wie viele Wählerstimmen, hat welche Gegner und ist wie gut der eigenen Partei vermittelbar?
Was manche als schleichende Sozialdemokratisierung der CDU bezeichnen, ist in Wahrheit nichts anderes als die kalkulierte Massentauglichkeit. Die bürgerliche Volkspartei wird zur Amöbe, die ihre Gegner thematisch umfließt. Das Wahlprogram gleicht in so einem Fall dem perfekten Popsong: Festgeschraubt an der Spitze der Charts, dabei aber seicht und irgendwie charakterlos. Eine Melange des Gefälligen. Das C von CDU steht dann für Coldplay, im doppelten Sinne.
Denn diese flexible Haltung mag bei eher abstrakten Themen wie Energiewende, Wehrpflicht, Steuerpolitik oder ähnlichem eine strategische Berechtigung haben. Politik ist nunmal Krieg mit anderen Mitteln, und dort und in der Liebe ist bekanntlich alles erlaubt (außer gleichgeschlechtliche Eheschließungen).
Bei Fragen der Menschenwürde offenbart dieses Kalkül jedoch eine soziale Kälte, die umso perfider ist, weil man sie im Gewand der wertkonservativen Tugenden kultiviert. Denn um nichts weniger geht es bei der gleichgeschlechtlichen Ehe: Um die Menschenwürde und den Anspruch auf prinzipienhafte Gleichheit aller Menschen trotz faktischer Unterschiede. Es geht um nichts weniger als die Frage, ob alle Menschen in Deutschland das gleiche Recht auf eine staatlich institutionalisierte Familie haben. Unabhängig ihrer sexuellen Präferenz, die in den wenigsten Fällen eine freie Entscheidung ist und deshalb als Wesensmerkmal jedes Einzelnen gelten muss.
Die einzigen ernsthaften Argumente gegen eine solche Gleichstellung sind religiöser Natur: Die Ehe als christliches Sakrament, mit eindeutigen biblischen Vorgaben. Zwar wird diese Auffassung häufig mit anderen sozialen, finanziellen oder biologischen Aspekten bemäntelt, aber letzten Endes argumentieren die Gegner der Homoehe immer entlang dieser christlichen Kulturtradition: Mutter und Vater seien gut für das Kind, jede andere Kombination schlecht. Hier wären die traditionellen Werte unserer Kultur bedroht, heißt es dann allenthalben.
Dass diese Auffassung falsch ist und schnell widerlegt werden kann, belegt unter anderem eine Studie des Justizministeriums über Kinder aus gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaften. Das Ergebnis ist eindeutig: Die Regenbogenfamilie ist nicht schlechter als jede andere Familie, ihr wird sogar bescheinigt, das Kind sexuell reflektierter zu erziehen. Angesichts fortschreitender Geschlechtergerechtigkeit und immer besseren sexuellen Entfaltungsmöglichkeiten kann das nur ein Vorteil sein. Ein Nachteil ist es nur dann, wenn man diese Entwicklung ablehnt. Deshalb weht der Wind auch bei einem Großteil von CDU und CSU aus dieser Richtung, selbst wenn einige moderne Parteimitglieder das nicht gerne sehen und auch viele aufgeklärte Christen diesen Standpunkt ihrer Kirche ganz und gar nicht schätzen.
In einem zeitgemäßen, weltlichen Staat ist das christliche Sakrament nämlich nur ein Teilaspekt von Ehe. Und zwar für jene, denen unsere Religionsfreiheit die Ausübung ihres Glaubens gestattet. Für den Rest der Bevölkerung ist sie schlichtweg das rechtlich organisierte Zusammenleben zweier Menschen. Mit steuerlichen Vorteilen, da der Staat unterm Strich von dieser Lebensform profitiert. Im Grunde ist sich der deutsche Souverän da auch ziemlich einig: Gleiches Recht für alle, auch bei der Ehe.
Angela Merkel hat als ostdeutsche Protestantin mit solcherart religiös umwölkten Argumentationen ohnehin nur wenig am Hut. Insofern teilt sie auch die traditionalistische Überhöhung des Eheideals nicht, das sich ihre christlich motivierten Gefolgsleute aus der CSU so gerne aufs Banner schreiben. Das zeigen allein ihre ganz persönlichen Familienverhältnisse.
Dass die Kanzlerin sich nun der Meinung eines Großteils der deutschen Bürgerschaft anschließt, ist deshalb aber noch lange kein Versuch an Modernität. Es ist auch kein korrigierender Akt der Menschenwürde, wie es die offizielle Parteirhetorik angesichts des gerichtlichen Urteils verpackt. Niemand wird ernsthaft behaupten können, dass man sich im Bundeskanzleramt erst über die Rechtslage im Klaren sein musste, um bei der Gleichberechtigung positiv Stellung zu beziehen. Es ist nichts mehr — und auch nichts weniger — als ein taktischer Zug angesichts der politischen Wetterlage.
Und das ist der Punkt, an dem die soziale Kälte ins Bewusstsein bricht und das Lächeln des aufgeklärten Bürgers gefriert. Denn hier wird deutlich, dass in dieser Rechnung das universelle Recht des Menschen auf Gleichheit und Freiheit nur eine strategischen Ware ist, mit der um die Mehrheit geschachert wird. Die Gleichheit der Bürger wird von der Kanzlerin nur dann politisch gefordert, wenn damit Wählerstimmen gewonnen werden. Und nur deshalb, weil die Regierung dazu vom Bundesverfassungsgericht in mittlerweile fünf Urteilen schlechterdings verdonnert wurde.
Das Gericht sah bei all diesen Urteilen die betroffenen Menschen in ihrer Würde verletzt. Es kann deshalb nur fair sein, wenn sich die Bundesregierung durch diese Kehrtwende selbst entwürdigt.
Never an honest word
And that was when I ruled the world
We can’t handle the truth
von Daniel am 21.02.2013
Es gibt wieder Krieg mit Deutschland. Deshalb gibt es auch wieder Veteranen, meint Bundesverteidigungsminister de Maizière. Eigentlich liegt diese Erkenntnis auf der Hand: Wo Soldaten im Einsatz sind, kann man nur hoffen, dass es auch bald Veteranen gibt. Denn das bedeutet, dass die Soldaten wieder zurückkommen.
Trotzdem verursacht der Begriff Magenschmerzen, aus bekannten historischen Gründen. Aus diesen Gründen lässt sich dann auch trefflich darüber streiten, inwiefern eine Armee einen sinnvollen Beitrag zur Weltgemeinschaft leistet. Das Meinungsspektrum bei dieser Frage reicht von pazifistischen Pauschalen über realpolitische Pragmatik bis hin zu klassischem Nationalmachismo.
Das alles ändert aber nichts an der Tatsache, dass es in Deutschland nun wieder Soldaten gibt, die einem tatsächlichen Kriegseinsatz hinter sich haben. Sie kommen nach Hause, hoffentlich unversehrt, aber leider nicht selten mit seelischen oder physischen Wunden.
Dass man diesen Umstand irgendwie in Worte fassen muss, steht außer Zweifel. Die Frage ist nur: Womit? Spricht man von Heimkehrern, Altgedienten, Einsatzrückkehrern? Oder eben von Veteranen? Letzteres möchte man vermeiden, denn damit entsteht plötzlich wieder eine Nähe zum reaktionären Großvater, der nach Frankreich nur auf Ketten fährt. Dabei ist natürlich jedem klar, dass den demokratischen Heimkehrer aus Afghanistan vom hitlergläubigen Wehrmachtssoldaten mehrere Welten trennen. Aber trotzdem grummelt es in der Magengegend, wie die nun wieder aufkeimende Begriffsdiskussion zeigt.
Also tritt man beherzt die Euphemismusmühle und versucht, ein schönes Wort für eine unschöne Sache zu finden. Eine Sache immerhin, die schon seit 2000 Jahren kulturübergreifend mit dem griechischen Wort Veteran bezeichnet wird.
Dabei liegt die Keimzelle der Debatte ganz wo anders: Deutschland hat ein Problem mit seinen Soldaten. Das ist eine Binsensweisheit und zeigt sich bei militärischen Anlässen am Raunen des Feuilletons — oder auch in handfesten Protesten, wenn es zum Beispiel um den Zapfenstreich geht. Das alles ist historisch nachvollziehbar, aber im konkreten Fall für die Gesellschaft schädlich. Denn einerseits wird fleißig nach dem verantwortungsvollen Bürger in Uniform gerufen, andererseits der Uniformierte gerne durch verantwortungslose Bürger im Regen stehen gelassen. Was das für Folgen haben kann, konnte man in Amerika an den Vietnam-Veteranen beobachten: Selbstmorde, Amokläufe, gescheiterte Existenzen — die Liste ist lang und grausam.
Amerika konnte sich damals nicht mit der ungemütlichen Wahrheit anfreunden, dass es den Vietnamkrieg faktisch verloren hatte. Waren die Weltkriegsveteranen als Helden gefeiert worden, sah man in den Heimkehrern aus Vietnam nur die schmerzliche Erinnerung an die Niederlage. Das Buch First Blood und seine Hauptfigur John Rambo sind eine eindrucksvolle literarische Verarbeitung dieses Traumas.
In Deutschland sind die heimkehrenden Veteranen ebenfalls eine schmerzliche Erinnerung: Wir führen wieder Krieg. Keinen Angriffskrieg, keinen totalen Krieg — aber eben Krieg. Und so langsam erwacht die Gesellschaft aus dem pazifistischen Traum der Nachkriegsjahre und sieht sich plötzlich mit Figuren wie Milošević, Gaddafi, Assad, Ahmadinedschad oder Kim Jong-ill bzw. –un konfrontiert, denen das Weltkriegstrauma und die schrecklichen Lektionen der Hitlerzeit herzlich egal sind.
Und mit diesem Erwachen reift auch eine andere Erkenntnis: Dass man als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt vielleicht auch ein paar Gewehre im Schrank haben sollte. Falls mal was passiert. Aber diese Erkenntnis ist schmerzhaft, weil sie mit dem Selbstverständnis einer geläuterten und moralisch herausgeforderten Weltmacht kollidiert.
Aus dem Umfeld von Willy Brandt ist das Diktum überliefert, dass von deutschem Boden niemals wieder Krieg ausgehen dürfe. Das ist auch heute noch ein lohnenswertes Ziel und kann nicht vehement genug verteidigt werden. Aber umso verständlicher sind auch die Magenschmerzen, die der Begriff Veteran auslöst. Er erinnert daran, dass zwar kein Krieg von deutschem Boden ausgeht, aber von diesem Boden immerhin Krieger losziehen, um anderswo zu kämpfen. Und sei es nur, um die Menschenrechte gegen grausame Diktatoren zu verteidigen. Es ist leider so, wie es Colonel Jessup in dem Film A Few Good Men seinem Ankläger entgegenschleudert:
You can’t handle the truth: We live in a world that has walls — and those walls have to be guarded by men with guns.
Diese Figur des Colonels mag ein faschistoider, selbstgerechter Drecksack sein — aber in diesem Moment bündelt der Autor in ihr das zivilisatorische Dilemma, in dem eine Gesellschaft und ihre Armee in Zeiten des Krieges gefangen ist.
Deshalb kann es nur falsch sein, mit Schönfärberei diesen Umstand zu verschleiern. Die Welt wird nicht friedlicher, weil man für heimkehrenden Soldaten ein nettes Wort verwendet. Es gibt wieder Krieg mit Deutschland, und es muss zunächst darum gehen, diese Tatsache zu akzeptieren.
Dann ist es auch egal, was für ein Wort man für einsatzerprobte Soldaten verwendet. Dann kann man sich fragen, wie man mit ihnen umgeht. Und wie man Kriegseinsätze auf ein Minimum reduziert.
Yes he can.
von Daniel am 14.02.2013
Die Reden des amerikanischen Präsidenten sind allgemein eine sehr pathetische Angelegenheit. Wenn der mächtigste Mann der Welt das Wort ergreift, dann redet er nicht in der Stimme des Alltags, sondern trifft den Ton der Geschichte. Dies gilt für die wichtigste politische Rede seines Amtes, der Ansprache zur Lage der Nation; vor allem aber gilt es für die größte Rede seiner Amtszeit, der Antrittsrede nach der Vereidigung. Vor tausenden Menschen am Washington Monument, auf dem Balkon des prachtvoll geschmückten Kapitols in Sichtweite des Lincoln Memorial – größer kann es nicht sein.
Die Inaugural Adress von Barack Obama vergangenen Montag traf dabei dennoch (oder deswegen) einen sehr weltpolitischen Ton. Der Präsident bezog glasklar Stellung zu verschiedenen Positionen seiner Agenda: Schärfere Waffengesetze, ein neues Einwanderungsgesetz und der Stärkung des Sozialstaates. Außerdem formulierte er Maßnahmen gegen den Klimawandel und forderte in sehr klaren Worten die gleichen Bürgerrechte für Homosexuelle.
Beeindruckend war aber vor allem der rhetorische Kunstgriff, mit dem die Rede zusammengehalten wurde: Obama hat von den Gründervätern Amerikas bis zum heutigen Tag eine große, quasireligiöse Heilsgeschichte erzählt, der er sich selbst durch seinen persönlichen Glauben verpflichtet fühle.
Für Europäer mag das seltsam klingen, in der amerikanischen Politik ist es allerdings sehr wirkungsvoll: In dem der Präsident all seine politischen Argumente im Bewusstsein seines Glaubens auf diese Gründerväter zurückführt, nimmt er konservativen Kräften wie der religiösen Rechten oder der Tea Party den Wind aus den Segeln. Denn gerade weil diese rechten Gruppen sich immer auf die Gründerväter und die Verfassung berufen, wird von jenen niemand die Keimzelle der präsidialen Rede bestreiten können:
We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness.
Obama hat diese berühmte Passage aus der Verfassung nicht nur zitiert, er verlängert sie auch in die Gegenwart:
Today we continue a never-ending journey, to bridge the meaning of those words with the realities of our time. For history tells us that while these truths may be self-evident, they have never been self-executing.
Aus seiner Erzählung von der großen freien Nation von weltgeschichtlichem Format leitet Obama nun alle Rechte, Verpflichtungen, Ideale und Ansprüche jedes einzelnen Menschen ab und macht damit sein eigenes politisches Programm zur Sache aller freien Menschen der Welt. Jeder Absatz mit politischen Forderungen beginnt mit den geschichtsträchtigen Worten We the people…
, die auch schon die Verfassung der Vereinigten Staaten einleiten.
Obama beschränkt dieses Programm damit nicht nur auf die Vereinigten Staaten, sondern macht die amerikanische Verfassung gleichsam zu einer Grundlage universaler Friedensarchitektur:
America will remain the anchor of strong alliances in every corner of the globe; and we will renew those institutions that extend our capacity to manage crisis abroad, for no one has a greater stake in a peaceful world than its most powerful nation. We will support democracy from Asia to Africa; from the Americas to the Middle East, because our interests and our conscience compel us to act on behalf of those who long for freedom.
Das Ziel ist damit eindeutig formuliert: Eine weltumspannende Pax Americana, die Gleichheit, Gerechtigkeit und Wohlstand verspricht und garantiert. Ein durch und durch imperialer Gedanke, der mit einer weltgeschichtlichen Sendung vorgetragen wird und in einem wirklich mutigen Appell gipfelt:
Let us together answer the call of history!
So einen Satz ohne Lächerlichkeit und falschem Pathos vor tausenden Menschen auszurufen, muss man sich leisten können. Aber es ist eben auch die größte Rede des mächtigsten Mannes der Welt.
Die Rede im Wortlaut: