Ab nach drüben

von Daniel am 11.12.2014

Ich muss jetzt zur CDU. Hat die Genos­sin aus Thü­rin­gen gesagt. Ich will zwar nicht, aber die junge Frau war sehr deut­lich: Wenn Euch die Jusos zu links sind, dann geht doch in die Junge Union!“

Frü­her hat man die unbe­que­men Leute auch immer nach drü­ben“ schi­cken wol­len, aber das war ja eben­falls keine Lösung. Immer­hin habe ich ein pas­sen­des Zitat von einem Uni­ons­po­li­ti­ker gefun­den, mit dem ich die­sen Text begin­nen kann: „Die Qua­li­tät und Sub­stanz einer leben­di­gen Demo­kra­tie ist daran zu erken­nen, wie sie mit Min­der­hei­ten umgeht.“
Das hat Nor­bert Lam­mert gesagt, in einer Rede als Schirm­herr des Genç-Preises für deutsch-türkische Ver­söh­nung. Eigent­lich ist das Zitat von Mahatma Ghandi, und der spricht von Zivi­li­sa­tion statt von Demo­kra­tie, aber das wäre etwas hoch gegrif­fen. Demo­kra­tie und auch Ver­söh­nung pas­sen schon ganz gut.

Der Reihe nach. Ich bin mal wie­der auf einen Bun­des­kon­gress der Jusos gefah­ren, dies­mal nach Bie­le­feld. Wollte ich eigent­lich nicht mehr, weil mich das letzte Mal so geär­gert hat. Außer­dem war es aus­ge­rech­net in Ost­west­fa­len, quasi die Schäl Sick des Müns­ter­lands. Aber da wir Rea­los auf Bun­des­kon­gres­sen immer einen schwe­ren Stand haben, man viele span­nende Leute trifft und auch die große NRW-Delegation haupt­säch­lich aus net­ten Men­schen besteht, bin ich als Gast angereist.

Und ganz unter uns: So schlimm ist Ost­west­fa­len gar nicht, auch wenn es zu zwei Drit­teln aus Him­mels­rich­tun­gen besteht. Auf Roter Erde lässt sich außer­dem gut über linke Poli­tik dis­ku­tie­ren. Auch der Bie­le­fel­der Stadt­plan zeigt sich äußerst sozi­al­de­mo­kra­tisch: Die große Kon­gress­halle am Willy-Brandt-Platz, ein­ge­rahmt von August-Bebel– und Friedrich-Ebert-Straße.

Nun war aber auch die­ses Jahr schnell klar: Rich­tige Debat­ten gab es keine, die Jusos haben sich nur ein wei­te­res Mal dem eige­nen Links­sein ver­ge­wis­sert und am Ende ein biss­chen gesun­gen. Das Ergeb­nis und auch das Abstim­mungs­ver­hal­ten waren mit etwas Hin­ter­grund­wis­sen vor­her­seh­bar: Die real­po­li­ti­schen Lan­des­ver­bände Ham­burg und Baden-Württemberg haben jede Abstim­mung ver­lo­ren, und auch die prag­ma­ti­sche Frak­tion aus NRW wurde regel­mä­ßig nie­der­ge­stimmt. Das Beschluss­buch ist des­halb auch kein wirk­li­cher Auf­ga­ben­zet­tel gewor­den, son­dern wie­der mal eine Art sozia­lis­ti­sches Gesin­nungs­pro­to­koll, für das die Tages­po­li­tik nur Stich­wort­ge­ber ist. Alles also wie gehabt.

Letz­tes Jahr habe ich mich dar­über geär­gert. Die­ses Jahr über­wiegt die Neu­gier: Warum ist das so? Was treibt die Leute an? Denn einer­seits ver­trägt sich die Tyran­nei der Mehr­heit natür­lich über­haupt nicht mit den eige­nen Wer­ten von Demo­kra­tie und Min­der­hei­ten­schutz. Und ande­rer­seits wird wohl auch dem letz­ten Naiv­ling klar sein, dass die Bun­des­re­gie­rung nun trotz Beschluss weder den Ver­fas­sungs­schutz abschafft (Antrag I 1), noch sämt­li­che Dro­gen lega­li­siert (Antrag P 8). Auch die Beschlüsse zu Israel oder Russ­land dürfte man im Aus­wär­ti­gen Amt kaum als Arbeits­grund­lage in Betracht zie­hen. Es wäre also ver­mut­lich halb so wild gewe­sen, wenn man den Rea­los hier und da die Hand gereicht hätte.
Hat man aber nicht.

Für mich warf das am Wochen­ende zwei Fra­gen auf:
1. Stört die­ser Bruch zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit nie­man­den?
2. Warum tut man sich das als Realo über­haupt noch an?

Die erste Ant­wort ist lang, die zweite dafür erfri­schend kurz.

Anspruch und Wirklichkeit

Die Süd­deut­sche Zei­tung hat den Bun­des­kon­gress eine „Linke Par­al­lel­welt“ genannt, und das trifft es ganz ohne Häme: Es ist ein sozia­ler Schutz­raum, in dem man sich sei­ner eige­nen Iden­ti­tät ver­ge­wis­sert. Die Jusos sind für viele keine poli­ti­sche Bewe­gung, son­dern eine Jugend­kul­tur; also tat­säch­lich eine Par­al­lel­welt, in der die Regeln der „Alten Säcke“, wie die Bun­des­vor­sit­zende die Koali­ti­ons­po­li­ti­ker immer wie­der nannte, außer Kraft gesetzt wer­den. Im Jar­gon der sozi­al­wis­sen­schaft­li­chen For­schung heißt das: Eine poli­ti­sche Sub­kul­tur, weil die beste­hende Kul­tur der Älte­ren den Her­an­wach­sen­den in ihrer Ado­les­zenz keine pas­sen­den Aus­drucks­mög­lich­kei­ten für das emp­fun­dene Lebens­ge­fühl anbietet.

Wenn man neue­ren Arbei­ten zu mei­ner Gene­ra­tion Glau­ben schenkt, ist die­ses Lebens­ge­fühl vor allem geprägt durch Zukunfts­fra­gen und Unsi­cher­heit – aus­ge­löst durch die soziale Drift und die Ero­sion gesell­schaft­li­cher Insti­tu­tio­nen, die frü­he­ren Gene­ra­tio­nen noch Sicher­heit ver­spre­chen konnten.

Der SPD ist die­ses Gefühl nicht fremd. Als indus­tri­elle und demo­kra­ti­sche Revo­lu­tio­nen die Gesell­schaft im 19. Jahr­hun­dert auf den Kopf gestellt hat­ten und Bebel, Las­salle und Lieb­knecht ihre ers­ten Reden schwan­gen, war die Zukunfts­angst eine ähn­li­che – wenn auch auf sehr viel weni­ger Wohl­stand und soziale Sicher­heit gegründet.

Eine mög­li­che Ant­wort war damals wie heute die sozia­lis­ti­sche Uto­pie: Wenn man sich Karl Kau­tskys Arbei­ten zur Welt von Mor­gen anschaut, die Ende des 19. Jahr­hun­derts das Pro­le­ta­riat beweg­ten, dann fühlt man sich an die all­jähr­li­chen Beschluss­bü­cher der Jusos erin­nert: Man beschäf­tigt sich inten­siv mit der Zukunft und der wün­schens­wer­ten Gesell­schaft, spricht aber höchs­tens abs­trakt über den stei­ni­gen Weg dort­hin, mit all sei­nen Kom­pro­mis­sen, Rück­schlä­gen und Win­kel­zü­gen. Für viele Jusos ist der Bun­des­kon­gress genau die­ser gemein­same Traum von der Zukunft – und auch von der grim­men Gegen­wart, aus der man zur Sonne, zur Frei­heit strebt.

Wenn man die Unbarm­her­zig­keit und Aggres­si­vi­tät man­cher Dele­gier­ten gegen­über Anders­den­ken­den erklä­ren möchte, muss man genau hier ansetzen.

Natür­lich bestrei­tet auch der prag­ma­ti­sche Flü­gel nicht das Leid der Flücht­linge, den Ter­ror des Krie­ges, die Armut der Men­schen und die soziale Ver­ant­wor­tung der Gesell­schaft. Er hat aber die unan­ge­nehme Ange­wohn­heit, bei der Prä­sen­ta­tion der ide­al­ty­pi­schen Zukunft den Pro­jek­tor aus­zu­schal­ten und den Ver­blen­dungs­zu­sam­men­hang zu durch­sto­ßen, wie es bei Adorno so schön heißt.

Nur so ist es zu erklä­ren, dass bei aller Rede von Tole­ranz, Offen­heit, Plu­ra­li­tät, Demo­kra­tie und Min­der­hei­ten­schutz der tat­säch­li­chen Realo-Minderheit im Ple­num mit gna­den­lo­ser Härte die Daseins­be­rech­ti­gung abge­spro­chen wird: Man sieht seine selbst­ge­wählte Iden­ti­tät als sozia­lis­ti­scher Revo­lu­tio­när bedroht, und das im inners­ten Hei­lig­tum der eige­nen Kul­tur. Genau diese Exis­tenz­angst lässt ansons­ten fried­li­che und nette Men­schen am Podium plötz­lich zu schäu­men­den Dem­ago­gen mutie­ren, deren Inbrunst jedem pro­mo­vier­ten Rhein­län­der zur Ehre gereicht.

Revo­lu­tion und Reform

Dabei ist die­ser Dis­put bei den Jusos so alt wie die Par­tei selbst. Seit ihrer Grün­dung strei­ten in der SPD Refor­mis­ten und Revo­lu­tio­näre mit­ein­an­der: Bern­stein gegen Kau­tsky, Schei­de­mann gegen Lieb­knecht junior und spä­ter ja auch irgend­wie Schrö­der gegen Lafon­taine. Das ist Teil der His­to­rie die­ser Par­tei und auch ihrer Gegenwart.

Ich habe aller­dings das Gefühl, dass bei vie­len Jusos das Bewusst­sein für diese gewach­sene Dyna­mik fehlt. Seit der soge­nann­ten Links­wende im Jahr 1969 defi­nie­ren die jewei­li­gen Macht­ha­ber ihre Orga­ni­sa­tion als sozia­lis­ti­schen Rich­tungs­ver­band am lin­ken Rand der Par­tei – und dul­den kei­nen Widerspruch.

Das führt natür­lich zu einem Pro­blem, denn die Jusos sind ja eigent­lich eine breit­ge­fä­cherte Jugend­or­ga­ni­sa­tion. Nicht alle jun­gen Men­schen bis 35 tre­ten in die SPD ein, weil sie Mar­xis­ten sind. Oder Sozia­lis­ten. Oder beson­ders linke Sozi­al­de­mo­kra­ten. Man­che tre­ten auch wegen Ger­hard Schrö­der ein, wegen Peer Stein­brück, Olaf Scholz oder Hel­mut Schmidt. Und deren poli­ti­sche Über­zeu­gung ist dann ganz sicher nicht dort, wo sie die sozia­lis­ti­schen Ober­häup­ter haben möchten.

Dann wird es schwer für die Neu­linge, weil Ihnen keine Mög­lich­keit der Par­ti­zi­pa­tion gebo­ten wird. Aus die­sem Grund hatte sich sei­ner­zeit die Prag­ma­ti­sche Linke gegrün­det, um zumin­dest gemein­schaft­lich diese rand­stän­di­gen Inter­es­sen zu ver­tre­ten. Da aber die­ser Ansatz den Gleich­schritt vom sozia­lis­ti­schen Rich­tungs­ver­band stört, hat die PL und auch wesens­ver­wandte Poli­tik aus Baden-Württemberg seit jeher einen schwe­ren Stand.

In mei­nen Augen liegt genau hier auch der Grund für die Über­al­te­rung der SPD. Die Jusos funk­tio­nie­ren nicht mehr als Jugend­or­ga­ni­sa­tion, son­dern sind nur noch das groß­zü­gig finan­zierte Vehi­kel einer jun­gen sozia­lis­ti­schen Cli­que – die natür­lich fel­sen­fest von der Recht­mä­ßig­keit ihrer Poli­tik über­zeugt ist und die SPD am liebs­ten wie­der in die Zei­ten vor Godes­berg zurück­trei­ben würde. Das ändert aber natür­lich nichts an den Tat­sa­chen: Eine Par­tei­ju­gend kann kein Rich­tungs­ver­band sein. Man ver­eint ent­we­der die gesamte poli­ti­sche Band­breite sei­nes demo­gra­fi­schen Seg­ments, oder man schließt sich als spe­zi­fi­sche Inter­es­sens­gruppe zusam­men, so wie es in der Par­tei einige gibt: Das Forum DL21, den See­hei­mer Kreis, das Netz­werk Ber­lin, frü­her die Kanal­ar­bei­ter und neu­er­dings die Mag­de­bur­ger Plattform.

Alle Jahre wie­der: Der Richtungsstreit

Letz­tere war am Sams­tag dann auch Aus­lö­ser des all­jähr­li­chen Rich­tungs­streits, der regel­mä­ßig zu Hass­ti­ra­den gegen­über der Rea­lo­frak­tion führt. Vor­aus­ge­gan­gen war ein offe­nes Bekennt­nis auf Bun­des­ebene zur Mag­de­bur­ger Platt­form, bei der sich die SPD-Linke nun orga­ni­siert. Der Bun­des­vor­stand hatte durch offi­zi­elle Kanäle dafür gewor­ben, außer­dem mit Ver­bands­mit­teln eine Fahrt zum Grün­dungs­kon­gress der Platt­form finan­ziert – sehr zum Ärger vie­ler real­po­li­ti­scher Jusos, die sich mit den Posi­tio­nen der Par­tei­lin­ken meist über­haupt nicht iden­ti­fi­zie­ren kön­nen. Ein Alter­na­tiv­an­ge­bot gab es nicht.

Das Argu­ment in der Debatte war dann zuge­ge­be­ner­ma­ßen ein sehr prag­ma­ti­sches: Man suche die Nähe zur Par­tei­lin­ken, weil die beschlos­se­nen Posi­tio­nen am ehes­ten mit ihr umsetz­bar sind. Das ist zwar kaum zu bestrei­ten, aber als Grund natür­lich vor­ge­scho­ben – alle Bun­des­funk­tio­näre enga­gie­ren sich bei der Platt­form, und das aus Überzeugung.

Die Debatte selbst kreiste vor allem um die Recht­mä­ßig­keit die­ser Sache. In mei­nen Augen war die wich­tigste Frage aller­dings schon beant­wor­tet: Der Bun­des­vor­stand weiß um die Viel­falt der Mit­glie­der, schert sich aber nicht darum. Er bedient kon­se­quent das eigene Kli­en­tel. Die Bun­des­vor­sit­zende Ueker­mann gehört zu den Tra­di­tio­na­lis­ten, und auch der rest­li­che Vor­stand rekru­tiert sich aus­schließ­lich aus den bei­den lin­ken Strö­mun­gen. Anders­den­kende wer­den des­halb igno­riert oder geschasst. Die PL aus NRW zum Bei­spiel wollte auf dem Kon­gress einen Info­stand orga­ni­sie­ren, um ihre Posi­tio­nen zu erklä­ren und Gesprächs­mög­lich­kei­ten abseits der Debat­ten anzu­bie­ten. Man hatte sich zu die­ser Öffent­lich­keits­ar­beit ent­schlos­sen, nach­dem auf der letz­ten Lan­des­kon­fe­renz in NRW die Strö­mungs­dy­na­mik bei­nahe die Ver­an­stal­tung gesprengt hatte. Immer­hin waren neben zahl­rei­chen Lob­by­stän­den auch der linke Par­tei­flü­gel in Form des Forums DL21 ver­tre­ten, inso­fern schien das kein Pro­blem. Der Bun­des­vor­stand lehnte aller­dings ab – mit der lapi­da­ren Erklä­rung, man habe keine Lust darauf.

Über­rascht hat es mich nicht, aber ich hatte zumin­dest einen jurist­schen Win­kel­zug erwar­tet. Statt­des­sen traf uns die offene Will­kür. Was blieb, waren ein paar Flyer – beglei­tet von hämi­schen Kom­men­ta­ren und dem Hin­weis, die Leute wür­den dann ja end­lich unsere „wah­ren Absich­ten“ erken­nen. Mir wurde in die­sem Moment klar, wie sehr sich man­che Dele­gierte in Ver­schwö­rungs­theo­rien ver­stri­cken: Hier die auf­rech­ten Revo­lu­tio­näre, dort die prag­ma­ti­schen Feinde der Frei­heit mit ihrer unhei­li­gen Agenda.

Juris­tisch mag das alles bestimmt ver­tret­bar sein, anstän­dig und red­lich ist es nicht. Die Bun­des­funk­tio­näre ver­fol­gen damit eine Poli­tik der Null­to­le­ranz, die zwar den eige­nen Inter­es­sen dient, dabei aber der eigent­li­chen Ver­ant­wor­tung nicht gerecht wird: Sie reprä­sen­tie­ren nicht die tat­säch­li­che Par­tei­ju­gend, und sie wol­len sie auch nicht reprä­sen­tie­ren. Sie wol­len einen sozia­lis­ti­schen Rich­tungs­ver­band füh­ren, in dem eine ideo­lo­gi­sche Elite über das Fort­kom­men der jun­gen SPD-Mitglieder ent­schei­det. Und das machen sie seit Jah­ren sehr erfolg­reich. Sucht man einen Grund für den stän­dig latent kri­seln­den Zustand der SPD, dann liegt das nicht unwe­sent­lich an die­sem Pro­blem: In der Jugend­or­ga­ni­sa­tion wird seit Jah­ren eine Hal­tung kul­ti­viert, die große Teile der Par­tei und ihrer Poli­tik ablehnt und verachtet.

Hin­ter den Kulissen

Aus Sicht eines neu­tra­len Par­tei­ma­na­gers müsste man die Jusos als Jugend­or­ga­ni­sa­tion also eigent­lich demon­tie­ren, weil sie nicht anstän­dig lie­fert: Der aktive Nach­wuchs ist nur eine sozia­lis­ti­sche Aus­lese, radi­ka­li­siert in sei­nen Ansich­ten und kaum ein Abbild der gesam­ten Partei.

Aber das wird natür­lich nicht gesche­hen, denn einer­seit ist der linke Flü­gel in der Par­tei durch­aus stark, und ande­rer­seits will sich nie­mand an einer der­art his­to­ri­schen Insti­tu­tion ver­he­ben. Trotz­dem: Wäre die SPD ein maro­der Fuß­ball­ver­ein, würde man sicher erst­mal die Nach­wuchs­ar­beit refor­mie­ren. Drib­bel­künste allein nüt­zen wenig, man muss auch Tore schie­ßen können.

Ich glaube aller­dings, dass sich nur wenige Bun­des­funk­tio­näre tat­säch­lich so lei­den­schaft­lich mit dem alle Jahre wie­der beschlos­se­nen Umstürz­ler­tum iden­ti­fi­zie­ren, wie sie es vor­ge­ben. Sie bedie­nen die domi­nante Frak­tion, um voran zu kom­men. Auch hier zeigt sich ein Aus­ein­an­der­tre­ten zwi­schen Anspruch und Wirk­lich­keit: Viele haben ver­gleichs­mä­ßig gut bezahlte Refe­ren­ten­stel­len im poli­ti­schen Betrieb und exe­ku­tie­ren in die­ser Funk­tion genau jene Poli­tik, die sie auf der Bühne dann mit revo­lu­ti­ons­ro­man­ti­scher Geste verteufeln.

Man sieht das gut an der Bun­des­vor­sit­zen­den selbst: Der Arbeit­ge­ber von Johanna Ueker­mann ist Axel Schä­fer, Bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ter und stell­ver­tre­ten­der Frak­ti­ons­chef der SPD. Schä­fer ist zwar Mit­glied der Par­la­men­ta­ri­schen Lin­ken, hat als Teil der Regie­rungs­ko­ali­tion aber für zahl­rei­che Bun­des­wehr­ein­sätze im Aus­land votiert und außer­dem einen Antrag der Grü­nen abge­lehnt, der die Ein­be­ru­fung der berüch­tig­ten Schieds­ge­richte im Rah­men des trans­at­lan­ti­schen Frei­han­dels­ab­kom­men TTIP ver­hin­dern sollte. Das alles waren sicher gut begrün­dete Ent­schei­dun­gen – sie ste­hen aller­dings der offi­zi­el­len Juso-Rhetorik dia­me­tral ent­ge­gen. Mehr als das: Als Refe­ren­tin arbei­tet Ueker­mann ver­mut­lich an genau jenen Reden und Arti­keln, mit denen Schä­fer seine Ent­schei­dun­gen begrün­det – nur um die­ses Wahl­ver­hal­ten dann in der Presse und am Podium als „Anbie­de­rung an die soge­nannte Mitte“ zu geißeln.

Man kann aller­dings wohl davon aus­ge­hen, dass beide sich über diese Dis­kre­panz unter­hal­ten haben. Der eine wird als erfah­re­ner Par­la­men­ta­rier um die beson­dere Folk­lore der Jusos wis­sen, die andere wird als Arbeit­neh­me­rin ihren Bröt­chen­ge­ber nicht ver­är­gern wol­len. Ich finde diese Dis­kre­panz auch nicht ver­werf­lich. Als Ghost­wri­ter teile auch ich nicht immer hun­dert­pro­zen­tig die Ein­stel­lun­gen mei­ner Kun­den. In sol­chen Fäl­len ist man dann ein­fach pro­fes­sio­nel­ler Dienst­leis­ter und stellt seine per­sön­li­che Mei­nung hintan.

Der totale Sozialismus

Was mich aller­dings stört, ist der mora­li­sche Tota­li­ta­ris­mus, der sich dann auf ande­rer Ebene aus­brei­tet und durch die offi­zi­elle Linie ange­heizt wird. In der Rich­tungs­de­batte am Sams­tag wurde dann auch nicht mehr dif­fe­ren­ziert dis­ku­tiert, son­dern die rhe­to­ri­sche Sta­lin­or­gel aus­ge­packt: Die eigene Sache musste schließ­lich gegen den Feind im Innern beschützt wer­den. Ein Genosse aus Ber­lin schüt­telte dazu am Podium den Zei­ge­fin­ger und ver­sprach, den Sozia­lis­mus „bis zum letz­ten Mann gegen euch zu ver­tei­di­gen!“ In die­sem Voks­sturm der Ent­rüs­tung jagte dann auch die Frau aus Thü­rin­gen alle real­po­li­ti­schen Dis­si­den­ten zum christ­de­mo­kra­ti­schen Teufel.

Klar ging es dabei nur um die eigene jugend­kul­tu­relle Iden­ti­tät, aber im Ver­hal­ten der Leute konnte man dabei fast schon faschis­to­ide Ten­den­zen erken­nen: Eine rausch­hafte Mehr­heit ver­höhnte und ver­ach­tete die poli­ti­sche Min­der­heit. Jemand fragte allen Erns­tes, wieso aus Baden-Württemberg über­haupt Anträge kämen, weil die ja ohne­hin abge­lehnt wür­den. Ein bay­ri­scher Genosse ver­stieg sich zu der Aus­sage, man sei als Funk­tio­när ja über­haupt nicht allen Jusos ver­pflich­tet, son­dern nur dem eige­nen Wäh­ler­kli­en­tel. All das natür­lich im unge­trüb­ten Bewusst­sein, sich für demo­kra­ti­sche Frei­heit, grenz­über­grei­fende Soli­da­ri­tät und soziale Gerech­tig­keit ein­zu­set­zen. Auch hier gibt es natür­lich beson­nene Kräfte, aber die wer­den dann durch das laute Hurra des Kaders übertönt.

Wen es tat­säch­lich wun­dert, wes­halb der Sozia­lis­mus in der Geschichte fast immer zur Dik­ta­tur mutiert ist, der fin­det im auf­ge­hetz­ten Rudel­ver­hal­ten auf dem Bun­des­kon­gress zumin­dest einen klei­nen Hin­weis: Es ist die Ver­ach­tung der Andersdenkenden.

Aber auch das weiß man aus der poli­ti­schen Geschichte: Erlebte Feind­se­lig­kei­ten schwei­ßen zusam­men und för­dern den eige­nen Idea­lis­mus. Denn auch wenn man den Prag­ma­ti­kern dau­ernd vor­wirft, keine Prin­zi­pien oder wirk­lich feste Über­zeu­gun­gen zu haben: Genau hier zeigt sich der der Antrieb der real­po­li­ti­schen Frak­tion. Wes­halb sonst schreibt man in Ham­burg jedes Jahr neue Papiere? Wes­halb sonst stellt man in Baden-Württemberg uner­müd­lich Ände­rungs­an­träge? Und wes­halb sonst fährt man Jahr für Jahr auf einen Kon­gress, auf dem man nicht nur unter­le­gen ist, son­dern auch mit Häme und Hass über­schüt­tet wird? Man macht es aus dem glei­chen Grund, aus dem auch Karl Lieb­knecht sei­ner­zeit als Ein­zi­ger ohne Chance auf Erfolg gegen die Kriegs­kre­dite gestimmt hatte: Weil man die Poli­tik der Mehr­heit scheiße fin­det. Edler gespro­chen: Weil man aus tie­fer Über­zeu­gung han­delt, und sich des­halb der Masse nicht beu­gen kann.

Was tun?

Genau das ist auch die Ant­wort auf Frage Num­mer zwei, wes­halb man sich das immer noch antut: Die prag­ma­ti­sche Frak­tion muss nicht um Pos­ten oder Beschlüsse kämp­fen, son­dern – viel grund­le­gen­der – um ihre Aner­ken­nung. Schon um die Demo­kra­tie bei den Jusos leben­dig zu halten.

Man wird mit den eige­nen Posi­tion sicher nicht die Hard­li­ner und Oppor­tu­nis­ten über­zeu­gen, aber irgend­wann stößt man bei den tole­ran­te­ren Leu­ten ein lang­sa­mes Umden­ken an. Das muss nicht zwangs­läu­fig ein poli­ti­scher Stel­lungs­wech­sel sein – aber es würde schon rei­chen, real­po­li­ti­sche Posi­tio­nen als gleich­wer­ti­gen Teil der Ver­bands­ar­beit anzu­er­ken­nen und sie mit dem glei­chen Respekt zu behan­deln, den man für so vie­les andere einfordert.

In NRW hat es dazu eine kol­la­bierte Lan­des­kon­fe­renz gebraucht; seit­dem nähert man sich an und trinkt auch mal wie­der ein Bier zusam­men. Wer weiß, was in den nächs­ten Jah­ren auf Bun­des­ebene geschieht. Eins ist aller­dings klar: Wei­ter so kann es nicht lau­fen, sonst stirbt der Ver­band den lang­sa­men Tod und die Jusos ver­rot­ten im eige­nen Saft. Die poli­tisch enga­gier­ten jun­gen Leute in Deutsch­land gehen dann tat­säch­lich alle zur Jun­gen Union. Und das kann kaum im Sinne der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Sache sein.

Bundesgeburtstagsglückwunsch

von Daniel am 17.07.2014

Dr. Angela Merkel nebst Blumenstrauß.
 

Liebe Frau Bundeskanzlerin,

 
ich freue mich, und das möchte ich an die­ser Stelle in aller Offen­heit sagen, Ihnen im Rah­men ihres 60. Geburts­tags meine Glück­wün­sche aus­rich­ten zu kön­nen. Obwohl wir in der Poli­tik oft unter­schied­li­cher Mei­nung sind, darf ich Ihnen an die­ser Stelle meine Ver­bun­den­heit aus­drü­cken. Ich glaube, dass Ihnen oft­mals viel­leicht auch etwas Absei­tig­keit zu mei­nem Hand­werk unter­stellt wird. Als beruf­li­cher Autor von Rede­ma­nu­skrip­ten kann ich Ihnen in die­ser Hin­sicht aber ganz kon­kret mit­tei­len, dass man bei mei­ner Arbeit von Ihnen auch ler­nen kann.

Was ist an Ihrer Art zu Spre­chen so beson­ders? Das Beson­dere ist hier vor allem ver­schie­dene Stil­mit­tel, die man immer wie­der bemer­ken darf:

Da ist ihre Liebe zur Sub­stan­ti­vie­rung, der Nomi­nal­stil in Voll­en­dung. Durch Suf­fixe und Prä­fixe kom­men die Ver­ben zur Ruhe. Was wal­tet, erstarrt in Verwaltung.

Dann die Adver­bien, die Umstands­wör­ter, sie sind wirk­lich umständ­lich. Oft benut­zen Sie manch­mal recht häu­fig viele hin­ter­ein­an­der, letzt­lich sonst doch eher unüb­lich für die Schrift­spra­che, trotz­dem aber auch gerade nütz­lich zur Befül­lung der eige­nen Sätze.

Auch das Pas­siv hat es Ihnen ange­tan. Ent­schei­dun­gen wer­den getrof­fen, Ver­träge unter­schrie­ben, Dis­kus­sio­nen geführt. Alter­na­ti­ven wer­den ver­wor­fen und das Land wird regiert, denn dazu kann Ihre Poli­tik einen Bei­trag leisten.

Förm­lich­keit schätzt man an Ihnen eben­falls. Sie sagen, dass sie es sagen, und das in aller Deut­lich­keit. Und wenn Sie sagen, dass sie etwas glau­ben — dann sagen Sie das mit gro­ßer Emphase.

Das ist der nächste Punkt. Ich glaube, diese Emphase macht sie beson­ders lie­bens­wür­dig. Mit sanf­ter Faust fin­den Sie ganz herz­lich etwas äußerst span­nend. Das ist die best­mög­li­che Form der Art und Weise, denn den Glau­ben kann Ihnen kei­ner nehmen.

Und schließ­lich schlei­chen sich Meta­phern in den Fluss Ihrer Rede, um als Sta­bi­li­täts­an­ker das Land wie­der auf Kurs zu brin­gen. Da ist nicht alles Gold, was schweigt, aber nach­dem Sie die Wei­chen rich­tig gestellt haben, fah­ren Sie mit Deutsch­land zur See: Alle an Bord, in ruhi­gem Fahr­was­ser das Ruder in der Hand, den siche­ren Hafen vor Augen.

Liebe Frau Bundeskanzlerin,

der Geburts­tag ist ja oft auch immer ein Zeit­punkt der guten Vor­sätze. Manch­mal gibt es Bestre­bun­gen mit dem Rau­chen auf­zu­hö­ren, die eigene Arbeit zu ver­än­dern oder in der Gestal­tung der Frei­zeit effi­zi­en­ter zu sein. Doch dann kommt das neue Jahr, und schnell hat einen der All­tag wie­der. Für das kom­mende Lebens­jahr haben Sie sonst aber bitte trotz­dem die Ent­schlos­sen­heit, Ihre Vor­sätze umzusetzen.

Nach­drück­lich, und das sage ich aus volls­tem Her­zen, wün­sche ich Ihnen Gesund­heit und ein neues Jahr.

Äußerst herz­lich

Ihr
Unterschrift - transparent

Das Bambi hat die Haare schön

von Daniel am 20.02.2014

Iro­nie ist oft der Ver­such, aus Not eine Tugend zu machen. Bei Selbst­iro­nie gilt die­ser Satz ganz beson­ders: Nichts wapp­net bes­ser, als das Schmun­zeln über die eige­nen Unzulänglichkeiten.

Chris­tian Lind­ner hat dafür unlängst ein glän­zen­des Bei­spiel gelie­fert. Bei der Büt­ten­rede zum tra­di­ti­ons­rei­chen „Orden wider den tie­ri­schen Ernst“, der ihm am 17. Februar in Aachen ver­lie­hen wurde, zog er als Red­ner alle selbst­iro­ni­schen Register.

Lind­ner spielte die ihm zuge­dachte Rolle als Witz­fi­gur im Käfig mit beein­dru­cken­der Sou­ve­rä­ni­tät: Als Red­ner mit Nar­ren­kappe im tra­di­tio­nel­len Nar­ren­kä­fig hat er sich sprich­wört­lich selbst zum Nar­ren gemacht. Und ange­sichts von Haar­trans­plan­ta­tion und kra­chen­der Wahl­nie­der­lage bot er in die­ser Hin­sicht auch genug Angriffsfläche.

Um diese Not­lage dann in eine Tugend zu ver­wan­deln, hat er — ganz im Sinne des Kar­ne­vals — die Rea­li­tät auf den Kopf gestellt; er machte alle ver­füg­ba­ren Witze über sich und seine Par­tei ein­fach selbst, inklu­sive einer erschre­ckend scham­lo­sen Genscher-Parodie. Her­aus­ge­kom­men ist ein ful­mi­nan­tes Stück poli­ti­sches Kaba­rett, von dem man sich im deut­schen Witz­fern­se­hen durch­aus eine Scheibe abschnei­den kann.

Nun ist Kar­ne­val aber sicher­lich nicht jeder­manns Freude, vor allem Büt­ten­re­den kön­nen leicht im Rohr kre­pie­ren. Die­sen Beweis lie­ferte am glei­chen Abend Gün­ther Oet­tin­ger, der sich in Aachen eben­falls am Humor ver­sucht hat. Dabei her­aus­ge­kom­men ist eine „wilde, sur­reale Col­lage“, wie es die Frank­fur­ter All­ge­meine Zei­tung nannte, dazu Fremd­scham im Über­fluss. An die­sem nach­ge­rade tra­gi­schen Auf­tritt sieht man sehr gut, dass nicht jeder Poli­ti­ker mit den eige­nen Unzu­läng­lich­kei­ten so sou­ve­rän umge­hen kann wie Chris­tian Lindner.

Die Lage zur Rede der Nation

von Daniel am 06.02.2014

Bei­nahe hätte es die­sen Arti­kel nicht gege­ben. Auf dem Plan stand eigent­lich eine struk­tu­relle Ana­lyse der Regie­rungs­er­klä­rung Angela Mer­kels, die sie ver­gan­ge­nen Mitt­woch im Bun­des­tag abge­ge­ben hat. Lei­der bin ich nach fünf­zehn Minu­ten eingeschlafen.

Das ist kein sprach­li­cher All­ge­mein­platz. Ich bin tat­säch­lich ein­ge­schla­fen, wenn auch nur kurz. Die blei­er­nen Sub­stan­tive der Kanz­le­rin haben mich geschafft. In der Nach­mit­tags­schwere ein aus­sichts­lo­ser Kampf. Mehr Lan­ge­weile wagen kom­men­tierte die Süd­deut­sche Zei­tung, und ich stelle fest: Die­ses Wag­nis ist die Kanz­le­rin ein­ge­gan­gen, mit sicht­ba­rem Erfolg.

Ein guter Grund, um über poli­ti­sche Rhe­to­rik zu schrei­ben, denn das Wort­spiel ent­larvt die ganze Dimen­sion des rhe­to­ri­schen Däm­mers. Wir den­ken sofort an das knar­zige Pathos von Willy Brandts Wir wol­len mehr Demo­kra­tie wagen, ein zen­tra­ler Satz sei­ner ers­ten Regie­rungs­er­klä­rung im Jahr 1969.

Nicht jede Regie­rungs­er­klä­rung muss die­ses Niveau hal­ten. Aber man könnte es ja zumin­dest ver­su­chen, wenn schon nicht mit Pathos, dann immer­hin mit Ori­gi­na­li­tät. Unver­ges­sen hier Hel­mut Schmidt, der sich in der Regie­rungs­er­klä­rung von 1976 über seine Was­ser­rech­nung ärgert und dafür von Loriot ver­ewigt wurde. Schmidt beschließt seine Aus­las­sun­gen mit den zeit­los rich­ti­gen Wor­ten: Das hat damit zu tun, dass es in den Büros, die das machen, Leute gibt, die sich nicht in die Lage ande­rer ver­set­zen. So auch im Kanzleramt.

Die wich­tigste poli­ti­sche Rede der Welt

Im Aus­land ist man da muti­ger. Hier ent­fal­ten Regie­rungs­er­klä­run­gen eine enorme rhe­to­ri­sche Kraft, die einer Ära ihren Stem­pel auf­drü­cken: Das blood, sweat & tears Wins­ton Chur­chills etwa, oder John F. Ken­ne­dys ask what you can do for your coun­try. Man muss aber auch gar nicht auf diese his­to­ri­schen Filet­stü­cke schauen. Es reicht ein Blick auf die tags zuvor gehal­tene Rede Barack Oba­mas zur Lage der Nation.

Zuge­ge­ben: Die State of the Union ist die wich­tigste poli­ti­sche Rede der Welt, der Super Bowl prä­si­dia­ler Prä­sen­ta­tion und die Cham­pi­ons Lea­gue des Reden­schrei­bens. Im Gegen­satz zur bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Regie­rungs­er­klä­rung wird sie vom Prä­si­den­ten sogar ver­fas­sungs­mä­ßig eingefordert:

He shall from time to time give to Con­gress infor­ma­tion of the State of the Union and recom­mend to their Con­side­ra­tion such mea­su­res as he shall judge necessary and expedient.

— Art. II, § 3

Das unter­schei­det sie fun­da­men­tal von ihrem deut­schen Pen­dant: Wäh­rend diese eher als Maß­nahme zur Koali­ti­ons­dis­zi­plin dient, ist jene eine ernst­zu­neh­mende Absichts­er­klä­rung des Prä­si­den­ten — und damit die kon­krete Rich­tungs­be­stim­mung für die kom­mende Legislaturperiode.

it’s the out­line, stupid

Ein Ver­gleich lohnt aber trotz­dem. Nicht beim Rede­schmuck und den ver­wen­de­ten Stil­fi­gu­ren, auf die Rhe­to­rik für gewöhn­lich redu­ziert wird, son­dern in einem Punkt, der für öffent­li­che Reden sehr viel wich­ti­ger ist: Der Sinn­zu­sam­men­hang und die Struk­tur, die sich dem Hörer unmit­tel­bar erschließt. Denn ganz egal, in wel­chem Rah­men eine Rede gehal­ten wird — wenn sie gehört wer­den soll, muss der Hörer nicht nur die Ohren spit­zen, son­dern auch den Sinn verstehen.

Die Bun­des­kanz­le­rin han­delt hier sorg­los. Die Struk­tur erschließt sich gerade mal beim Lesen der Rede, aber auch nur dann dem geschul­ten Auge. Es wird nicht mal der Ver­such unter­nom­men, anschau­lich zu erzäh­len oder das Audi­to­rium für die eigene Sache zu begeis­tern. Man will zwar die Quel­len des guten Lebens allen zugäng­lich machen, wählt für die­sen hohen Anspruch aber den nie­ders­ten Beam­ten­jar­gon. In den Wor­ten der Süd­deut­schen Zei­tung: Die Kanz­le­rin ver­knüpfte Alt­be­kann­tes mit Selbst­ver­ständ­lich­kei­ten — und streute jede Menge Plat­ti­tü­den ein. Wenn die State of the Union also dem Super Bowl der Cham­pi­ons Lea­gue ent­spricht, ähnelt Mer­kels Regie­rungs­er­klä­rung hier eher dem Freund­schafts­spiel des Sport­clubs Bil­ler­beck mit der ört­li­chen Sparkasse.

Was genau macht aber Oba­mas Rede so gut? Es liegt tat­säch­lich weni­ger an den geschlif­fe­nen For­mu­lie­run­gen, son­dern an der Struk­tur und der kon­se­quente Anschau­lich­keit, mit der die ein­zel­nen The­men erzählt wer­den. Des­halb schreibe ich jetzt auch nicht mehr über die Regie­rungs­er­klä­rung, son­dern über die State of the Union, obwohl seit­dem schon eine ganze Woche ins Land gegan­gen ist. Dafür ist sie aber immer noch schön zu hören, vor allem unter klassisch-rhetorischen Gesichtspunkten.

Ein­lei­tung

Das beginnt schon mit der Ein­lei­tung. Wo Mer­kel aus aktu­el­lem Anlass, aber völ­lig zusam­men­hangs­los etwas über die Ukraine erzählt, ent­hält Oba­mas Ein­lei­tung alles, was schon Cicero und Quin­ti­lian für ein gutes Exor­dium emp­feh­len: Auf­merk­sam­keit erre­gen, den Inhalt vor­be­rei­ten und die Hörer wohl­wol­lend stimmen.

Obama macht das gekonnt durch einen Ein­stieg medias in res, einer Zusam­men­fas­sung von Erfol­gen und Pro­ble­men und schließ­lich durch einen rhe­to­ri­schen Kunst­griff, bei dem er nicht nur alle Erfolge dem Volk zuschreibt, son­dern dabei auch die Rolle eines Volks­die­ners ein­nimmt, der Rechen­schaft über seine Arbeit ablegt.

So heißt es direkt zu Beginn der Rede:

Today in Ame­rica, a teacher spent extra time with a stu­dent who nee­ded it, and did her part to lift America’s gra­dua­tion rate to its hig­hest level in more than three decades.

An entre­pre­neur flip­ped on the lights in her tech star­tup, and did her part to add to the more than eight mil­lion new jobs our busi­nes­ses have crea­ted over the past four years.

An auto­wor­ker fine-tuned some of the best, most fuel-efficient cars in the world, and did his part to help Ame­rica wean its­elf off for­eign oil.

A far­mer pre­pa­red for the spring after the stron­gest five-year stretch of farm exports in our history.

A rural doc­tor gave a young child the first pre­scrip­tion to treat asthma that his mother could afford.

A man took the bus home from the gra­veyard shift, bone-tired but drea­ming big dreams for his son.

And in tight-knit com­mu­nities across Ame­rica, fathers and mothers will tuck in their kids, put an arm around their spouse, remem­ber fal­len com­ra­des, and give thanks for being home from a war that, after twelve long years, is finally com­ing to an end.

In kur­zen Spots wird hier mit­ten ins Leben geschaut. Dem Hörer wird bild­lich vor Augen geführt, dass Ame­rika nach fünf Jah­ren Obama ein guter Ort zum Leben ist. Zum Ver­gleich: Bei Mer­kel heißt es dazu Heute kön­nen wir fest­stel­len: Deutsch­land geht es so gut wie lange nicht. So läuft das: In Ame­rika wird Glück erlebt, in Deutsch­land wird es fest­ge­stellt. Oder kann es fest­ge­stellt wer­den, wenn es denn nicht zu viel Umstände macht, immer­hin räumt uns die Bun­des­kanz­le­rin die Mög­lich­keit dazu ein, also jeder wie er mag.

Im Ver­gleich dazu umgar­nen Oba­mas Reden­schrei­ber die Hörer mit Anschau­lich­keit. Sie sind dabei noch nicht mal revo­lu­tio­när, son­der wäh­len in guter rhe­to­ri­scher Tra­di­tion einen klas­si­schen Ein­stieg a loco, also abge­lei­tet vom Ort der gehal­te­nen Rede. Man kennt das: „Meine Damen und Her­ren, wer an die­sem Ort eine Rede hält, der denkt sofort an…“ In die­sem Fall ist die­ser Ort aber nicht das Kapi­tol in Washing­ton, son­dern — das ist der legi­time Anspruch der State — ganz Ame­rika. Adres­sat ist dem­ent­spre­chend auch nicht etwa der Kon­gress, son­dern das gesamte Volk:

Tonight, this cham­ber speaks with one voice to the people we rep­re­sent: it is you, our citi­zens, who make the state of our union strong.

Das ist sicher­lich prä­si­dia­ler Pathos, aber ange­sichts der Gra­ben­kämpfe zwi­schen Prä­si­dent und repu­bli­ka­ni­schem Kon­gress auch eine sehr ele­gante Art zu zei­gen, wer in der Poli­tik das Sagen hat.

Es ist außer­dem eine schlaue Demut­s­adresse. Nicht der Prä­si­dent, son­dern das Volk hat diese Leis­tung erbracht. So heißt es anschlie­ßend: Here are the results of your efforts und es folgt eine knappe Zusam­men­fas­sung erfreu­li­cher Ent­wick­lun­gen, abge­schlos­sen mit der Feststellung:

After five years of grit and deter­mined effort, the United Sta­tes is better-positioned for the 21st cen­tury than any other nation on Earth.

Aber kein Rechen­schafts­be­richt wäre kom­plett ohne Pro­bleme und Her­aus­for­de­run­gen, die es noch zu meis­tern gilt. Die gibt es, doch:

The ques­tion for ever­yone in this cham­ber, run­ning through every deci­sion we make this year, is whe­ther we are going to help or hin­der this progress.

Es folgt auch hier eine Zusam­men­fas­sung der Pro­bleme, die die Kon­gress­blo­ckade der letz­ten Monate ver­ur­sacht hat: Still­stand, Ver­trau­ens­schwund und soziale Unge­rech­tig­keit. Obama nennt hier zum ers­ten Mal das Leit­mo­tiv sei­ner Rede beim Namen: Oppor­tu­nity — das urame­ri­ka­ni­sche Ideal der unbe­grenz­ten Möglichkeit.

And what I believe unites the people of this nation, regard­less of race or region or party, young or old, rich or poor, is the sim­ple, pro­found belief in oppor­tu­nity for all – the notion that if you work hard and take responsi­bi­lity, you can get ahead in America.

Genau die­ses Ideal sieht Obama jedoch durch die repu­bli­ka­ni­schen Hard­li­ner im Kon­gress bedroht. Des­halb möchte er im Sinne sei­ner ver­fas­sungs­recht­li­chen Ver­pflich­tung (s.o.) nun ver­schie­dene mea­su­res prä­sen­tie­ren, die er für necessary und expe­dient hält:

What I offer tonight is a set of con­crete, prac­tical pro­po­sals to speed up growth, strengt­hen the middle class, and build new lad­ders of oppor­tu­nity into the middle class.

Das ist — ganz klas­sisch rhe­to­risch — auch eine soge­nannte pro­po­si­tio, eine kurze Vor­weg­nahme des Fol­gen­den. Er schließt dabei unge­wöhn­lich autoritär:

But Ame­rica does not stand still – and neit­her will I. So whe­re­ver and whe­ne­ver I can take steps wit­hout legis­la­tion to expand oppor­tu­nity for more Ame­ri­can fami­lies, that’s what I’m going to do.

Das Audi­to­rium ist nun pas­send vor­be­rei­tet. Obama hat die Aus­gangs­lage erläu­tert und seine Ziele genannt, dabei Auf­merk­sam­keit erregt, den Inhalt vor­be­rei­tet und das ame­ri­ka­ni­sche Volk wohl­wol­lend gestimmt.

Erzäh­lung

Der Ein­lei­tung folgt in klas­si­scher Struk­tur die nar­ra­tio, eine Erzäh­lung, die das Leit­mo­tiv der Rede erklärt und zum eigent­lich Thema hin­lei­tet. Auch das gelingt, und zwar mit Charme: As usual, our First Lady sets a good example. Es wird ein Wohl­tä­tig­keits­pro­jekt zum sozia­len Auf­stieg von Michelle Obama und Jill Biden vor­ge­stellt, das Chan­cen­gleich­heit ver­spricht und bei­spiel­haft für poli­ti­sche Arbeit im Dienste des ame­ri­ka­ni­schen Traums steht:

The point is, there are mil­li­ons of Ame­ri­cans outs­ide Washing­ton who are tired of stale poli­ti­cal argu­ments, and are moving this coun­try for­ward. They believe, and I believe, that here in Ame­rica, our suc­cess should depend not on acci­dent of birth, but the strength of our work ethic and the scope of our dreams. That’s what drew our fore­be­ars here.

Nun wer­den drei Anwe­sende ange­spro­chen, um in der Sache ganz beim Publi­kum zu bleiben:

It’s how the daugh­ter of a fac­tory worker is CEO of America’s lar­gest auto­ma­ker; how the son of a bar­kee­per is Speaker of the House; how the son of a sin­gle mom can be Pre­si­dent of the grea­test nation on Earth.

Der gesam­melte Applaus ist Obama sicher. Er hat dabei nicht nur die Repu­bli­ka­ner an Bord, die den Auf­stieg ihres Speakers John Boeh­ner wür­di­gen, son­dern natür­lich auch die eige­nen Demo­kra­ten. Im Klang die­ses Jubels for­mu­liert Obama seine zen­trale These:

Oppor­tu­nity is who we are.  And the defi­ning pro­ject of our gene­ra­tion is to res­tore that promise.

Der Span­nungs­bo­gen funk­tio­niert, die zuge­spitzte Bot­schaft sei­ner Rede sitzt wie das Sah­ne­häub­chen auf einem gro­ßen patrio­ti­schen Eisbecher.

Sach­teil

Damit ist der Boden für die Sache berei­tet. Es folgt also der Trak­tat, der umfang­rei­che Sach­teil der Rede. Obama behan­delt jetzt eine Viel­zahl poli­ti­scher Maß­nah­men, die aber sinn­voll zusam­men­ge­fasst wer­den: Erst Wirt­schafts­po­li­tik, dann Sozi­al­po­li­tik, schließ­lich Außenpolitik.

Zunächst <a href=„http://en.wikipedia.org/wiki/It“ onclick=„_gaq.push([’_trackEvent‘, ‚outbound-article‘, ‚http://en.wikipedia.org/wiki/It‘, ‚the eco­nomy, stu­pid‘]);“ title=„Wikipedia: It’s the eco­nomy, stu­pid“ s_the_economy,_stupid“>the eco­nomy, stupid. Hier geht es um Steu­er­re­form, Inves­ti­tio­nen, Frei­han­del, Inno­va­tio­nen und Ener­gie­po­li­tik, im Wort­sinne als Treib­stoff der Wirt­schaft. Anschlie­ßend, was den deut­schen Sopo überrascht:

Finally, if we are serious about eco­no­mic growth, it is time to heed the call of busi­ness lea­ders, labor lea­ders, faith lea­ders, and law enforce­ment – and fix our bro­ken immi­gra­tion system.

Migra­tion als wirt­schafts­po­li­ti­sches Pro­blem zu begrei­fen — das ist sehr anglo-amerikanisch, aber wohl auch im Sinne der über­par­tei­li­chen Eini­gung ein ver­söh­nen­des Argument.

And for good rea­son: when people come here to ful­fill their dreams – to study, invent, and con­tri­bute to our cul­ture – they make our coun­try a more attrac­tive place for busi­nes­ses to locate and create jobs for everyone.

Die­ser Hin­weis auf die Arbeits­plätze beschließt das Wirt­schafts­seg­ment in Form von zwei klei­nen Geschich­ten, wie­der aus der Mitte Ame­ri­kas: Die Erfolgs­ge­schichte einer Unter­neh­mens­grün­de­rin in Detroit und das Arbeits­lo­sen­schick­sal einer sor­gen­den Mut­ter. Obama nutzt das nahe lie­gende Pathos, um die Zuhö­rer zu bewe­gen — movere, wie auch Cicero schon for­dert, wenn es um mensch­li­che Schick­sale geht. Vor allem die Geschichte der arbeits­lo­sen Frau, die in einem Brief vom Prä­si­den­ten trot­zig eine zweite Chance ver­langt hatte, gibt Anlass für einen ein­dring­li­chen Appell:

Con­gress, give these hard­wor­king, responsi­ble Ame­ri­cans that chance. They need our help, but more import­ant, this coun­try needs them in the game.

Und ja: Hier schim­mert Ken­ne­dys berühm­tes Dik­tum der staats­bür­ger­li­chen Ver­ant­wor­tung durch die Zei­len. Die Über­lei­tung von hier zur Sozi­al­po­li­tik fällt Hörern und Schrei­bern leicht:

Of course, it’s not enough to train today’s work­force. We also have to pre­pare tomorrow’s work­force, by gua­ran­te­e­ing every child access to a world-class education.

Auch das wird mit einer Geschichte ver­an­schau­licht, und zwar durch die erfolg­rei­che Bil­dungs­bio­gra­phie eines latein­ame­ri­ka­ni­schen Ein­wan­de­rers aus New York. Es folgt ein Auf­ruf zur Bil­dungs­re­form, zum Breit­band­aus­bau und zur Aus­bil­dungs­för­de­rung. Dem folgt ein lei­den­schaft­li­ches Plä­do­yer für die Gleich­stel­lung, das in sei­ner Klar­heit und Über­zeu­gungs­kraft völ­lig zu Recht den lau­tes­ten Jubel des Abends erntete:

Today, women make up about half our work­force. But they still make 77 cents for every dol­lar a man earns. That is wrong, and in 2014, it’s an embar­rass­ment. A woman deser­ves equal pay for equal work. She deser­ves to have a baby wit­hout sacri­fi­cing her job. A mother deser­ves a day off to care for a sick child or sick par­ent wit­hout run­ning into hardship – and you know what, a father does, too. It’s time to do away with work­place poli­cies that belong in a “Mad Men” epi­sode. This year, let’s all come toge­ther – Con­gress, the White House, and busi­nes­ses from Wall Street to Main Street – to give every woman the oppor­tu­nity she deser­ves. Because I firmly believe when women suc­ceed, Ame­rica succeeds.

Wer würde im deut­schen Bun­des­tag schon eine „Mad Men“-Referenz wagen? Ver­mut­lich die wenigs­ten, weil popu­läre Kul­tur den meis­ten als unse­riös gilt.

Obama erwei­tert jetzt den Fokus unge­rech­ter Bezah­lung und spricht vom all­ge­mei­nen Min­dest­lohn. Auch das wird durch eine Geschichte ver­an­schau­licht: Ein Piz­za­bä­cker aus Min­nea­po­lis zahlt sei­nen Ange­stell­ten frei­wil­lig das gerechte Gehalt — und sitzt des­halb wäh­rend der Rede auf der Ehren­tri­büne. Auch hier ist der Appell klar:

Of course, to reach mil­li­ons more, Con­gress needs to get on board.

Nun wird die Sozi­al­ver­si­che­run­gen abge­han­delt, dabei natür­lich auch Oba­ma­care, das wie­der mit einer kur­zen Geschichte über eine gesun­dete Arbei­te­rin ver­an­schau­licht wird. Hier bie­tet sich natür­lich Schelte an, dies­mal mit lei­ser Ironie:

Now, I don’t expect to con­vince my Repu­bli­can fri­ends on the merits of this law.

Obama schafft es aber auch hier über­par­tei­lich zu wer­den: Er ver­weist auf den repu­bli­ka­ni­schen Gou­ver­neur von Ken­tu­cky — not the most libe­ral part of the coun­try - der aus Grün­den der soli­da­ri­schen Ver­bun­den­heit für die Kran­ken­ver­si­che­rung gestimmt hat. Und damit ist er bei einem Unter­thema der Sozi­al­po­li­tik: Citizenship.

It’s the spi­rit of citi­zenship – the reco­gni­tion that through hard work and responsi­bi­lity, we can pur­sue our indi­vi­dual dreams, but still come toge­ther as one Ame­ri­can family to make sure the next gene­ra­tion can pur­sue its dreams as well.

Mit einer wir­kungs­vol­len Wort­fi­gur beschließt Obama die Sozi­al­po­li­tik: Durch Merisma (gedank­li­che Auf­tei­lung) und Ana­pher (ein­läu­ten­den Wort­wie­der­ho­lung) erläu­tert Obama am Gedan­ken des Citi­zenship seine Ein­stel­lung zu Wahl­recht, Waf­fen­recht und Gemeinschaftssinn.

Citi­zenship means stan­ding up for everyone’s right to vote.
[…]
Citi­zenship means stan­ding up for the lives that gun vio­lence ste­als from us each day.
[…]
Citi­zenship demands a sense of com­mon cause;

Der Dienst am Gemein­wohl ist eine pas­sende Über­lei­tung zur Armee, und damit ist Obama beim drit­ten Block des Sach­teils, der Außen­po­li­tik. Er gibt einen Über­blick über die Kriegs– und Kon­flikt­schau­plätze mit ame­ri­ka­ni­scher Betei­li­gung, wobei hier vor allem der patrio­ti­sche Dienst der ame­ri­ka­ni­schen Sol­da­ten im Mit­tel­punkt steht. In die­sem Zug wer­den auch die The­men­fel­der Droh­nen und Spio­nage kurz abge­han­delt, nur um — sehr geschickt — anschlie­ßend ein Lob­lied auf die mul­ti­la­te­rale Diplo­ma­tie zu sin­gen, als Ver­hin­de­rin von Krie­gen. Hier ver­tei­digt Obama auch sehr gelun­gen seine Ver­hand­lun­gen mit dem Iran:

If John F. Ken­nedy and Ronald Rea­gan could nego­tiate with the Soviet Union, then surely a strong and con­fi­dent Ame­rica can nego­tiate with less power­ful adversa­ries today.

Die impe­riale Außen­po­li­tik Ame­ri­kas wird dar­auf­hin in vie­len Aspek­ten beleuch­tet und in die­sem Sinne auch als Mit­tel prä­sen­tiert, über­all auf der Welt Gutes zu tun und huma­ni­täre Hilfe zu leisten:

Finally, let’s remem­ber that our lea­dership is defined not just by our defense against thre­ats, but by the enor­mous oppor­tu­nities to do good and pro­mote under­stan­ding around the globe.

In die­sem Sinne wid­met Obama sich abschlie­ßend noch ein­mal der Armee als Gehil­fen die­ser Agenda und run­det den Teil über Außen­po­li­tik, und damit auch den gro­ßen Sach­teil der Rede mit einer ein­drucks­vol­len Geschichte ab: Er erzählt vom Army Ran­ger Cory Rems­burg, der durch eine Kopf­ver­wun­dung lange im Koma lag und sich nur müh­sam ins Leben zurück­ge­kämpft hat. Obama geht ins Detail, fes­selt die Hörer mit dem har­ten Schick­sal des Sol­da­ten und endet schließ­lich mit einer pas­sen­den Moral:

“My reco­very has not been easy,” he says. “Not­hing in life that’s worth anything is easy.”

Cory is here tonight. And like the Army he loves, like the Ame­rica he ser­ves, Ser­geant First Class Cory Rems­burg never gives up, and he does not quit.

Der sicht­lich vom Krieg gezeich­nete Sol­dat und die auf­wüh­lende Geschichte ver­feh­len nicht ihre Wir­kung. Das gesamte Haus erhebt sich und auch der Prä­si­dent selbst applau­diert dem Vete­ra­nen auf der Ehren­tri­büne, meh­rere Minu­ten lang.

Schluss

Nach die­sem gro­ßen Applaus ist der lange Sach­teil been­det, es folgt ein rela­tiv kur­zer Schluss. Aber wo Obama sonst für gewöhn­lich ein rhe­to­ri­sches Feu­er­werk abbrennt und sei­nen Appell in ener­gi­sche, pathos­ge­schwän­gerte Satz­kas­ka­den klei­det, wird er an die­ser Stelle ganz ruhig und nimmt die Ergrif­fen­heit über das Sol­da­ten­schick­sal mit in sein Resümee:

My fel­low Ame­ri­cans, men and women like Cory remind us that Ame­rica has never come easy.  Our free­dom, our demo­cracy, has never been easy.  Some­ti­mes we stum­ble; we make mis­ta­kes; we get frus­tra­ted or discouraged.

But for more than two hund­red years, we have put those things aside and pla­ced our collec­tive shoul­der to the wheel of pro­gress – to create and build and expand the pos­si­bi­li­ties of indi­vi­dual achie­ve­ment; to free other nati­ons from tyranny and fear; to pro­mote justice, and fair­ness, and equa­lity under the law, so that the words set to paper by our foun­ders are made real for every citizen.

The Ame­rica we want for our kids – a rising Ame­rica where honest work is ple­nti­ful and com­mu­nities are strong; where pros­pe­rity is widely shared and oppor­tu­nity for all lets us go as far as our dreams and toil will take us – none of it is easy.  But if we work toge­ther; if we sum­mon what is best in us, with our feet plan­ted firmly in today but our eyes cast towards tomor­row – I know it’s wit­hin our reach.

Believe it.

Damit ist die große Rede zur Lage der Nation been­det, nicht auf lau­tem Hurra, son­dern auf einer lei­sen Note der Hoff­nung — das zen­trale Motiv Oba­mas Präsidentschaft.

Gutes Hand­werk

Es ist eine große Leis­tung der Reden­schrei­ber, dass man diese ganze Stunde gebannt zuhö­ren kann. Es ist aber auch kein Hexen­werk. Die Auto­ren befol­gen nur kon­se­quent alle rhe­to­ri­schen Rat­schläge, die man seit 2000 Jah­ren bei ein­schlä­gi­gen Auto­ren wie Aris­to­te­les, Cicero oder Quin­ti­lian und mei­net­we­gen auch bei spä­te­ren Abschrei­bern nach­le­sen kann. Dort steht unmiss­ver­ständ­lich, dass eine gute Rede nicht nur beleh­ren, son­dern auch bewe­gen und unter­hal­ten muss. Dass eine gute Ein­lei­tung die Hörer emp­fäng­lich macht und des­halb schon die halbe Miete ist. Dass über Schick­sale und Sach­ver­halte in unter­schied­li­chen Stil­hö­hen geschrie­ben wer­den muss. Und dass die Struk­tur einer Rede für ihren Erfolg ent­schei­dend ist: in die­sem Fall eine zusam­men­fas­sende Ein­lei­tung, eine unter­hal­tende Erzäh­lung, ein beleh­ren­der Sach­teil und ein bewe­gen­der Schluss.

Wenn die Regie­rungs­er­klä­rung in Deutsch­land die Men­schen also tat­säch­lich wie­der errei­chen soll, dann muss das Hand­werk bes­ser wer­den. Die­ses Hand­werk heißt aber nicht Poli­tik, son­dern Rhe­to­rik. Dazu muss man sich in den Büros im Kanz­ler­amt wie­der in die Lage ande­rer ver­set­zen. Hel­mut Schmidt arbei­tet ja lei­der nicht mehr dort.

Salonsozialisten

von Daniel am 11.12.2013

Scha­det es dir, wenn du als Salon­bol­sche­wist ver­klei­det ein­her­ge­pol­tert kommst? Gar nicht.
     - Kurt Tucholsky, Ber­li­ner Geselligkeiten

Am Vor­abend der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­tion geht es noch ein­mal zu McDo­nalds. Nach­dem auf dem dies­jäh­ri­gen Bun­des­kon­gress der Jusos das Arbeits­pro­gramm „Mor­gen links leben“ ver­ab­schie­det wurde, an pro­mi­nen­ter Stelle mit dem Ziel, das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem zu über­win­den, möchte man vor­her noch ein­mal den Geschmack der groß­in­dus­tri­el­len Nah­rungs­mit­tel­pro­duk­tion genie­ßen. Wieso auch nicht, die bes­sere Welt wurde bereits beschlos­sen, und mit Beschluss­la­gen ist in der Poli­tik nicht zu spaßen.

Damit die Beschluss­lage stimmt, orga­ni­sie­ren die Jusos ein­mal im Jahr den gro­ßen Bun­des­kon­gress, auf dem mehr als 300 Dele­gierte aus allen Tei­len der Bun­des­re­pu­blik Poli­tik für junge Men­schen machen wol­len. Die­ses Jahr hat man in Nürn­berg getagt, in der mitt­ler­weile ver­las­se­nen Zen­trale des abge­wi­ckel­ten Quelle-Konzerns. Ich war die­ses Mal Teil der NRW-Delegation, mein Köl­ner Unter­be­zirk stellt heuer ganze 9 Dele­gierte — mehr als der Lan­des­ver­band Bran­den­burg oder der in Mecklenburg-Vorpommern.

Über­haupt ist Köln eine kleine Beson­der­heit in Nordrhein-Westfalen. Wie bei jeder Par­tei gibt es auch bei den Jusos ver­schie­dene Strö­mun­gen, genau genom­men drei: Das Netz­werk Lin­kes Zen­trum (NWLZ), die Tra­di­tio­na­lis­ten (Tra­dis) und die Prag­ma­ti­sche Linke (PL). Und wäh­rend nun fast ganz Nordrhein-Westfalen vom Lin­ken Zen­trum besetzt wird, ist Köln eine Enklave der Prag­ma­ti­ker. Ein klei­nes rhei­ni­sches Dorf gewis­ser­ma­ßen, das nicht auf­hört Wider­stand zu leisten.

Gegen den Strom

Für Außen­ste­hende muss man das viel­leicht erklä­ren: An die­sen Strö­mun­gen schei­det sich auch das Selbst­ver­ständ­nis der Jusos. Für die soge­nannte „Gesamt­linke“, Tra­dis und NWLZ, bedeu­tet Jusos „Jung­so­zia­lis­ten“, also das ganze dun­kel­rote Pro­gramm mit Marx, Engels und der inter­na­tio­na­len Soli­da­ri­tät. Für die Prag­ma­ti­ker ist es die Abkür­zung für „Junge Sozi­al­de­mo­kra­ten“, man ist hier im all­ge­mei­nen weni­ger nost­al­gisch. Damit sind auch die Fron­ten klar, es teilt sich gewis­ser­ma­ßen an der „Godes­ber­ger Linie“: Hier die sozia­lis­ti­sche Arbei­ter­ju­gend im Klas­sen­kampf, dort die junge Volks­par­tei mit real­po­li­ti­scher Initia­tive. Demo­gra­fisch ist es dabei iro­ni­scher­weise genau umge­kehrt: Die Gesamt­linke besteht größ­ten­teils aus Mittelschicht-Studenten geis­tes­wis­sen­schaft­li­cher Cou­leur, wäh­rend man bei den Prag­ma­ti­kern häu­fig Men­schen fin­det, deren Erwerbs­bio­gra­phie bereits eine gewisse Belast­bar­keit ent­wi­ckelt hat.

Der fak­ti­sche Unter­schied zwi­schen Tra­dis und Lin­kem Zen­trum bleibt dabei aka­de­misch und ent­steht oft nur regio­nal oder auf­grund leicht abwei­chen­der Marx-Exegese. Ein Genosse erklärt es mir auf der Bus­fahrt nach Nürn­berg: Die vom NWLZ tra­gen auch schon mal Kla­mot­ten von H&M. In der Sache sei man sich aber einig: Der Kapi­ta­lis­mus müsse weg, Dis­kri­mi­nie­rung auch und ganz all­ge­mein habe die Welt von mor­gen ein Gleich­stel­lungs­fa­nal zu erfah­ren, das alle mensch­li­chen Unter­schiede auf­löse in ein Kol­lek­tiv har­mo­nie­ren­der Stoffwechsler.

Was hier an Strö­mungs­de­tails albern und irre­le­vant klin­gen, erlebe ich dann nach fünf­stün­di­ger Anreise an drei Tagen in einer thea­tra­li­schen Dimen­sion, die an Absur­di­tät und Wahn­witz nur schwer zu über­bie­ten ist. Vor allem erlebe ich es aber als hand­feste Dis­kri­mi­nie­rung. Das ist für einen wei­ßen, pri­vi­le­gier­ten Mann eine sehr über­ra­schende Erfah­rung. Zumal ich nicht wusste, dass sich die Strö­mungs­fron­ten bis in die Orga­ni­sa­ti­ons­in­sti­tu­tio­nen des Ver­bands ver­län­gern und man als Anders­den­ken­der gera­dezu aktiv ver­ach­tet wird.

Im Vor­feld habe ich es des­halb erst mal für ein Ver­se­hen gehal­ten, dass ich als Ersatz­de­le­gier­ter auf einem rela­tiv aus­sichts­rei­chen Lis­ten­platz nicht über mei­nen mög­li­chen Ein­satz infor­miert wurde. Bis mich dann eine Bekannte aus einer der ande­ren Strö­mun­gen anschrieb, ob ich denn eben­falls in Nürn­berg dabei wäre. Dass die junge Dame auf der Ersatz­liste knapp 10 Plätze hin­ter mir stand, fand ich selt­sam, denn schein­bar hat­ten auch andere Strö­mungs­ge­nos­sen weit vor mir auf der Liste noch keine Benach­rich­ti­gung bekom­men. Nach kur­zer offi­zi­el­ler Nach­frage beim NRW-Landesbüro ging es dann aber ganz schnell: Alle Ersatz­de­le­gier­ten der PL, so stellte es sich nach­her her­aus, wur­den im Minu­ten­ab­stand ange­ru­fen und infor­miert. Es schien, als würde eine Liste abte­le­fo­niert. Es ist ein sehr selt­sa­mes Gefühl, auf einer poli­ti­schen Liste zu stehen.

Kabale und Hiebe

Aber so läuft es auf Juso-Bundesebene, das weiß ich jetzt. Im Gegen­satz zur poli­ti­schen Arbeit an der Basis geht es hier nicht um Argu­mente, son­dern um Stall­ge­ruch. „Wir gegen die“ lau­tet die Strö­mungs­de­vise, gut (Tradi & NWLZ) gegen böse (PL). Dabei wer­den in einer über­ra­schend scham­lo­sen Weise schmut­zige Tricks ange­wandt, die einer höfi­schen Kabale in nichts nach­ste­hen. Vor allem die durch und durch real­po­li­tisch ori­en­tierte Dele­ga­tion aus Ham­burg wird auf Bun­des­ebene regel­recht geäch­tet. Ich wun­dere mich noch beim Schrei­ben die­ses Tex­tes, wie ein der­ar­ti­ges Ver­hal­ten mit den hoch­ge­hal­te­nen Wer­ten von Gleich­heit und sozia­ler Gerech­tig­keit in Ein­klang gebracht wer­den kann. Ent­we­der wer­den hier beide Augen zuge­drückt, oder man ist der­art selbst­ge­recht, dass der Zweck die Mit­tel hei­li­gen darf.

Das wird beson­ders offen­sicht­lich bei den Vor­stands­per­so­na­lien, die unter der har­ten Fuch­tel der Gesamt­lin­ken statt­fin­den. Jetzt könnte man ja als Außen­ste­hen­der mei­nen, dass die PL bei einem knap­pen Drit­tel aller Dele­gier­ten im Vor­stand ver­tre­ten sein müsste, wenn man denn Diver­si­tät und Mei­nungs­viel­falt ernst nähme. Ist sie aber nicht, die neue Vor­sit­zende Johanna Ueker­mann erklärt bei ihrer Vor­stel­lungs­runde auch warum: „Einen Platz im Bun­des­vor­stand muss man sich ver­die­nen.“ In ande­ren Wor­ten: Da könnte ja jeder kom­men. Viel­leicht werde ich das Argu­ment mal auf­grei­fen, wenn es um andere Quo­ten geht. Ich könnte dann sagen: Einen Platz im Auf­sichts­rat muss man sich ver­die­nen. Das würde die Dis­kus­sion sicher­lich span­nend machen.

Wirk­lich fas­sungs­los werde ich dann aber bei der Wahl für den Bun­des­vor­sitz am Frei­tag Abend. Im Vor­feld wurde bereits durch den alten Vor­stand die Nach­fol­ge­rin ver­ord­net — in einer Weise, die die Kan­di­da­ten­fin­dung Peer Stein­brücks nach­ge­rade basis­de­mo­kra­tisch erschei­nen lässt. Die befoh­lene Erb­folge gip­felte dabei in einem taz-Artikel, der Ueker­mann Wochen vor dem Kon­gress bereits zur neuen Vor­sit­zen­den erklärte. Viel­leicht durfte sie des­halb auch das Arbeits­pro­gramm vor­stel­len, sie bekommt auf diese Weise jeden­falls mehr als dop­pelt so viel Zeit die Dele­gier­ten zu umschmei­cheln. Wobei sie das eigent­lich nicht nötig hat, die Wahl an sich ist wegen der ein­be­to­nier­ten Mehr­hei­ten ohne­hin weit­ge­hend bedeu­tungs­los. Der Gegen­kan­di­dat aus der PL, Hauke Wag­ner, ent­spricht näm­lich so gar nicht der sozia­lis­ti­schen Richt­li­nie: Real­po­li­ti­ker, Indus­trie­ma­na­ger, Ver­hei­ra­tet, Ham­burg. Außer­dem will er die Große Koali­tion, gewis­ser­ma­ßen als Sah­ne­häub­chen auf der Hen­kers­mahl­zeit. Wie ver­hasst so jemand ist, merke ich bei sei­ner Rede: Mit ech­ter Über­zeu­gung hebt er ent­schlos­sen die Faust und ruft in den Saal: „Kein Fuß­breit dem Faschis­mus!“ — und ern­tet betre­te­nes Schwei­gen bei den lin­ken Strö­mun­gen. Ich frage mich, wie ver­bohrt man sein muss, um als Lin­ker bei so einem Satz nicht zu klat­schen. Man weiß es nicht, man ahnt es aber.

Man sieht es auch spä­ter wie­der bei einem Antrag aus Ham­burg. Eine Azubi-Gruppe soll ein­ge­rich­tet wer­den, was natür­lich nicht sein kann, weil man aus Ham­burg kei­nen Antrag dul­det. Des­halb tre­ten ein paar Schü­ler ans Mikro, reden von Par­al­lel­struk­tu­ren und behaup­ten, die Schü­ler­gruppe der Jusos würde sich ja um die Azu­bis küm­mern. Dann fällt noch das Mikro aus, als ein Ham­bur­ger den Antrag ver­tei­di­gen will, und schon sind zwei Drit­tel im Saal der Mei­nung, dass die Jung­so­zia­lis­ten der ältes­ten Arbei­ter­par­tei Deutsch­lands kein Ange­bot für den betrieb­li­chen Nach­wuchs brauchen.

Das ist nicht nur gro­tesk, son­dern auch tie­fen­iro­nisch: Bei einem Ver­band, der so oft von „Über­zeu­gung“ spricht, ist die Über­zeu­gung im Dis­kurs nicht vor­ge­se­hen. Hier gibt es rich­tig und falsch, ein­se­hen und ein­kni­cken. Echte Tole­ranz, also die vor­be­halt­lose Akzep­tanz der Mög­lich­keit einer ande­ren Wahr­heit, sucht man vergebens.

Mora­li­sches Theater

Es wird auf dem Kon­gress ohne­hin viel geheu­chelt. Wäh­rend vorne die Abkehr vom kapi­ta­lis­ti­schen Sys­tem gefor­dert wird, kann man sich in der Vor­halle des Ple­nums bei den Lob­by­stän­den der Deut­schen Bahn und der Tele­kom bera­ten las­sen, eine Ver­si­che­rung abschlie­ßen oder XBox spie­len. Ich selbst habe weder Pro­bleme mit der Deut­schen Bahn (bis auf die obli­ga­to­ri­schen Ver­spä­tun­gen), noch mit der Tele­kom oder einer XBox, aber ich behaupte ein­fach mal, dass nichts davon im Sinne der sozia­lis­ti­schen Revo­lu­tion ist. Auch die Unter­brin­gung der Dele­ga­tion im Livestyle-Hotel mit Design-Interieur ist mir alle­mal lie­ber als die schä­bi­gen Lager­häu­ser, in denen Marx und Engels über den Arbei­ter­auf­stand dis­ku­tier­ten, aber auch hier könnte man als ech­ter Sozia­list kri­tisch den Fin­ger heben. Als Kulisse für das denk­wür­dige Schau­spiel, bei dem eine Gruppe pri­vi­le­gier­ter Stu­den­ten über die Unter­drü­ckung durch die Bour­geoi­sie schwa­dro­niert, ent­wi­ckelt die­ses Ambi­ente dann aber einen ganz eige­nen Charme.

In die­ses Thea­ter tritt dann wenig spä­ter ein Mar­xist und möchte eine Antrags­dis­kus­sion mit den Wor­ten been­den: Die Klas­sen­ge­sell­schaft ist ein Fakt! Das heißt natür­lich nichts ande­res als: Meine Posi­tion ist alter­na­tiv­los, wobei er das so ver­mut­lich nicht gesagt haben wol­len würde. Kurz ringe ich des­halb mit dem Gedan­ken der Kon­fron­ta­tion. Argu­mente gegen den his­to­ri­schen Mate­ria­lis­mus gibt es genug, und auch die Klas­sen­ge­sell­schaft ist in Zei­ten der mil­lieu­ba­sier­ten Iden­ti­fi­ka­tion und Ero­sion pro­le­ta­ri­scher Lebens­wel­ten alles andere als faktisch.

Ich hole mir dann aber doch nur einen Kaf­fee, es nützt ja alles nichts. Die Tasse kos­tet stolze zwei Euro, über­haupt sind die Getränke auf dem Kon­gress alle­samt sehr teuer. Ver­mut­lich um die Lei­den der Pro­duk­ti­ons­kräfte durch die Ent­frem­dung von ihren Erzeug­nis­sen zu lin­dern. Viel­leicht hatte man aber auch ein­fach keine Zeit, güns­ti­ges Cate­ring zu bestel­len. So ent­steht zumin­dest auf dem Kon­gress eine Tei­lung in Buf­fet­bour­geoi­sie und Mit­bring­pro­le­ta­riat, die dem Klas­sen­kämp­fer auf der Bühne gefal­len würde. Und da ich unter all den Stu­den­ten als Arbeit­neh­mer mit gere­gel­tem Ein­kom­men bereits zum Groß­ka­pi­tal gehöre, kaufe ich gleich noch eine Packung Nürn­ber­ger Leb­ku­chen für 8,50 Euro dazu. Was soll der Geiz, man lebt nur einmal.

Apro­pos Geiz: Man geizt hier nicht mit mora­li­schen Urtei­len. Beson­ders mora­lin­sauer wird es bei einem Gen­der­thema, bei dem ein prag­ma­ti­scher Genosse doch anmahnt, die Welt nicht in schwarz und weiß zu spal­ten, son­dern auch Grau­zo­nen zuzu­las­sen. Eine ange­strengt wir­kende Frau stapft umge­hend ans Mikro und zetert in den Saal, die Welt sei zwar nicht schwarz und weiß, aber trotz­dem böse. Damit ist die Debatte dann auch been­det, denn natür­lich will nie­mand dem Bösen Vor­schub leis­ten. Über­haupt gibt es Kil­ler­phra­sen im Son­der­an­ge­bot. Genosse Jun­gi­li­gens aus Mön­chen­glad­bach hat hier sogar die ulti­ma­tive BuKo-Kompilation gewagt. Mein Vor­schlag wäre kür­zer, viel­leicht: „Wir sind ein isti­scher, isti­scher und isti­scher Rich­tungs­ver­band, Nos­sen­un­nos­sen, so geht es doch nun wirk­lich nicht!“ Damit könnte man sicher den ein oder ande­ren Schlag­ab­tausch gewin­nen — wenn man nicht das Stigma des Prag­ma­ti­kers trägt.

Freund und Feind

Dass diese über­haupt nicht gerne gese­hen wer­den, sieht man spä­tes­ten beim Besuch von Sig­mar Gabriel. Der macht eigent­lich nichts ande­res als der alte Juso-Bundesvorsitzende Vogt am Tag zuvor: Er steht auf der Bühne und fin­det die Große Koali­tion gut. Trotz­dem wird jener gera­dezu lie­be­voll ver­ab­schie­det, wäh­rend man die­sen mit Spott und Ver­ach­tung über­schüt­tet. Gabriel gibt sich dabei aber uner­schüt­ter­lich und liest den Jusos die real­po­li­ti­schen Levi­ten. Im Kern zeigt sich auch hier wie­der das Pro­blem der binä­ren Tei­lung in Freund und Feinde: Gabriel behan­delt die Koali­tion wie ein Geschäft mit dem poli­ti­schen Geg­ner, für viele Jusos aber ist sie der Ver­rat an den poli­ti­schen Feind.

Das ist wohl ein grund­le­gen­des Pro­blem: Im Klas­sen­kampf gibt es kei­nen sport­li­chen Kon­tra­hent, son­dern nur feind­li­che Unter­drü­cker. Viel­leicht ist das beschlos­sene Pro­gramm auch des­halb so nega­tiv: Es will alles mög­li­che bekämp­fen, abschaf­fen, auf­bre­chen oder über­win­den. Das alles aber nicht etwa wort­ge­wal­tig und mit dem Pathos eines poli­ti­schen Mani­fests, son­dern sehr im Fach­jar­gon beschränkt und mit der bei­läu­fi­gen Aggres­si­vi­tät einer zer­brö­seln­den Ehe. Als ob der Autor beim Schrei­ben schlechte Laune gehabt hat.

Pas­sen­der­weise soll kurze Zeit spä­ter die Ehe abge­schafft wer­den, sie sei ein patri­ar­cha­li­sches Kon­strukt. Meine stumme Frage, ob das auch für die Homo­ehe zweier Frauen gelte, wird nicht beant­wor­tet. Es scheint aber, dass man die Homo­ehe trotz­dem ein­füh­ren will, damit man sie nach­her mit allen ande­ren Ehe­for­men abschaf­fen kann. Ähn­li­ches gilt für die Frau­en­quote, die man natür­lich will, obwohl man auch gleich­zei­tig soziale Geschlech­ter­kon­struk­tio­nen über­win­den möchte. Auf Nach­frage werde ich aber auf­ge­klärt: Man möchte erst die Quote und dann die Ent­schlecht­li­chung. Das Wort gibt es nicht, ich habe es mir gerade aus­ge­dacht, aber es passt so schön in den sozio­lo­gi­schen Wort­zir­kus, der sich Antrags­de­batte nennt. Der Ein­wand aller­dings, dass es ja nun wenig sinn­voll sei, wenn man bei­spiels­weise Lego­steine erst gleich­mä­ßig nach Far­ben ver­teilt, nur um sie nach­her alle weiß zu lackie­ren, wird nicht ernst genom­men. War er auch nicht gemeint, ich halte die weib­li­che Quote prin­zi­pi­ell für eine gute Sache. Trotz­dem bin ich immer wie­der über­rascht, wie wenig Humor bei sol­chen The­men erlaubt ist. Aber viel­leicht darf man in einer bösen Welt auch ein­fach keine Witze machen.

Dabei könnte auch der Bun­des­kon­gress mit einer Quote ein Stück gerech­ter wer­den: Durch Regio­nal­pro­porz bei Antrags­be­schlüs­sen zum Bei­spiel. Oder durch Strö­mungs­quo­tie­rung im Vor­stand, wie es ja bei der grü­nen Dop­pel­spitze der Fall ist. Das würde aber ver­mut­lich nie­mals frei­wil­lig beschlos­sen wer­den, weil hier einer der ältes­ten sozia­len Mecha­nis­men der Mensch­heits­ge­schichte greift: Macht­er­halt. Denn so obrig­keits­kri­tisch und anti­hier­ar­chisch man sich auf dem Kon­gress gibt — die Regio­nal­fürs­ten der Jung­so­zia­lis­ten sind Platz­hir­sche mit eisen­har­ten Man­schet­ten. Ihre Macht­po­li­tik steht dem inner­par­tei­li­chen Rän­ke­spiel in nichts nach. Mit wel­chen per­fi­den Tricks auch auf dem Bun­des­kon­gress Mehr­hei­ten orga­ni­siert und ver­tei­digt wer­den, hat der Genosse Yan­nick Reu­ter unlängst in einem Blog­bei­trag gemut­maßt: Über­vor­tei­lun­gen, Abspra­chen, Sat­zungs­tricks bis hin zu tech­ni­scher Sabotage.

Es ist natür­lich schwer, hier juris­tisch ein­wand­frei eine tat­säch­li­che Absicht nach­zu­wei­sen, das gelänge ver­mut­lich nur mit kri­mi­na­lis­ti­schen Mit­teln. Trotz­dem ist es auf­fäl­lig, wie viele sol­cher Ein­zel­hei­ten sich zu einem Gan­zen fügen, und wie deut­lich diese Ein­zel­hei­ten von den unter­schied­lichs­ten Men­schen wahr­ge­nom­men wer­den. Der Genosse Reu­ter bei­spiels­weise ver­wei­gert sich aus­drück­lich der Strö­mungs­po­li­tik und sym­pa­thi­siert mit kei­ner Frak­tion, beob­ach­tet das ärm­li­che Schau­spiel aber trotz­dem (oder des­we­gen) mit Schaudern.

Spricht man die Leute dar­auf an, wird weit­ge­hend abge­wie­gelt. Es gehe aus­schließ­lich um Inhalte, man müsse doch fair blei­ben und so wei­ter. Ich frage mich, ob das an tat­säch­li­cher Über­zeu­gung, sim­pler Nai­vi­tät oder geris­se­ner Ver­schla­gen­heit liegt. Viel­leicht ist es aber auch nur eine Form von Betriebs­blind­heit, die das eigene Han­deln nur noch unzu­rei­chend reflek­tiert. Der Dele­ga­ti­ons­lei­ter von NRW zum Bei­spiel hat eine sehr raum­grei­fende Per­sön­lich­keit und ist sehr von sei­nen poli­ti­schen Qua­li­tä­ten über­zeugt. Viel­leicht ist das der Grund, wes­halb er Ein­wände und Zwei­fel von außer­halb gerne mit jovia­ler Geste weg­we­delt. Die Über­zeu­gung hilft ihm jeden­falls dabei, vor drei­hun­dert Dele­gier­ten sturz­be­trun­ken auf die Bühne zu schlen­dern und Tri­via­li­tä­ten über den schei­den­den Vor­sit­zen­den zu erzäh­len. Das muss man kön­nen, und das muss man wollen.

Der Sozia­lis­mus, ein Insiderwitz

An die­sem sams­tag­abend­li­chen Pro­gramm­punkt fin­det ohne­hin eine sym­bo­li­sche Ver­dich­tung statt, von der man als Jour­na­list nur träu­men kann. Es wird fast der gesamte Bun­des­vor­stand ent­las­sen und jeder ein­zelne Abschied durch interne Anek­do­ten, Ein­spiel­film­chen oder Musik gefei­ert. Die ganze Zere­mo­nie dau­ert geschla­gene drei Stun­den, bis um 23.00 Uhr schließ­lich der schleswig-holsteinische Lan­des­chef Ralf Stegner auf die Bühne tritt, um eine halb­stün­dige Abschieds­lau­da­tio auf Sascha Vogt zu hal­ten. Zu die­sem Zeit­punkt sind bereits ein Groß­teil der Anwe­sen­den ernst­haft ver­är­gert, weil sie als ein­fa­che Dele­gierte die meis­ten Geschich­ten und Per­so­nen kaum oder gar nicht ken­nen und den Kon­gress eigent­lich seit 20.00 Uhr beim Ver­bands­fest aus­klin­gen las­sen woll­ten. Aber die Bun­des­funk­tio­näre krei­sen im Geiste um sich selbst. Nur so ist es zu erklä­ren, dass man rund 200 Außen­ste­hen­den den Abend ver­saut, indem man einem drei­ein­halb­stün­di­gen Insi­der­witz erzählt.

So steigt die Feier erst um Mit­ter­nacht, was den nächs­ten Tag nicht unbe­dingt ein­fa­cher macht. Kurz vor Schluss wird näm­lich noch ein­mal der Geist von Rosa Luxem­burg her­auf­be­schwo­ren, die laut Antrag­stel­le­rin auch noch knapp 100 Jahre nach ihrem Tod zeit­ge­mäße Ant­wor­ten für die Pro­bleme des 21. Jahr­hun­derts bie­ten soll: Man beschließt mit viel gen­der­theo­re­ti­schem Brim­bo­rium die Teil­nahme am Frau­en­kampf­tag. Eine Genos­sin aus Müns­ter äußert im klei­nen Kreis die Hoff­nung, es könnte dabei ja viel­leicht auch um Schlamm­cat­chen gehen, wird dafür aber pflicht­be­wusst mit einem Grin­sen kritisiert.

Schließ­lich ist es geschafft: Der Kon­gress hat ein Ende, der Kapi­ta­lis­mus bald hof­fent­lich auch und man fährt müde in die jewei­lige Hei­mat zurück. Beschlos­sen wurde eini­ges, obwohl die Mehr­hei­ten fast immer ent­lang der Strö­mungs­fron­ten ver­lie­fen und eine inte­gre linke Poli­tik natür­lich anders aus­sieht. Es bleibt zum Bei­spiel offen, wie die Über­win­dung der kapi­ta­lis­ti­schen Pro­duk­ti­ons­weise mit der zeit­gleich erho­be­nen For­de­rung nach „Smart­pho­nes für alle“ ver­bun­den wer­den kann. Es bleibt offen, wie sich die For­de­rung nach Gleich­heit und Inklu­sion mit der Iso­la­tion eines knap­pen Drit­tels der Dele­ga­tion ver­trägt. Und natür­lich bleibt es offen, wie man nach drei Tagen im Sozia­lis­ten­zir­kus frei­mü­tig bei McDo­nalds ein­keh­ren kann. Doch das sind Fra­gen, die sich die meis­ten Dele­gier­ten nicht stel­len. Nicht heute, man will ja erst „Mor­gen links leben“.

Ich per­sön­lich beiße am Sonn­tag­abend jeden­falls herz­haft in mei­nen Bur­ger, ich habe ja gegen die Abschaf­fung des Kapi­ta­lis­mus gestimmt. Am genüss­li­chen Mamp­fen der ande­ren glaube ich erken­nen zu kön­nen, dass es vie­len gar nicht so Unrecht ist, wenn der Kapi­ta­lis­mus noch ein paar Tage durch­hält. Im Sozia­lis­mus gibt es sicher kei­nen Big Tasty.

Beim Ent­sor­gen der Dele­gier­ten­un­ter­la­gen nehme ich mir aber trotz­dem fest vor, in einem Jahr mal nach­zu­schauen, was aus den gan­zen Anträ­gen gewor­den ist. Ver­mut­lich nichts, so war es auch in den ver­gan­ge­nen Jah­ren. Den ein­zig nen­nens­wer­ten Mehr­wert für die Gesell­schaft leis­tet der Juso-Bundesverband im Nach­wuchs­be­reich: Die meis­ten Funk­tio­näre wer­den durch Seil­schaf­ten in irgend­wel­che Posi­tio­nen gehievt und ret­ten damit nicht sel­ten ihre brü­chige Bio­gra­fie. Auch Johanna Ueker­mann wird wohl am Ende ihrer Juso-Karriere in irgend­ei­nem Par­tei­amt lan­den, so wie Vogt und die meis­ten Juso-Vorsitzenden vor ihm. Ein Genosse bemerkte am Wochen­ende dazu zynisch, dass sei im Grunde doch im Sinne der sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Arbei­ter­wohl­fahrt: Men­schen zu hel­fen, die auf dem Arbeits­markt Pro­bleme haben. Aber auch wenn man freund­li­cher dar­über reden will, regt sich Zwei­fel: Wie nah am Volk bleibt eine Volks­par­tei, wenn sich ihre Funk­tio­näre aus­schließ­lich aus den eige­nen Kader­schmie­den rekru­tie­ren? Und wie zukunfts­si­cher ist die Nach­wuchs­ar­beit einer über­al­ter­ten Par­tei, wenn jedes Jung­mit­glied auto­ma­tisch einem Ver­band sozia­lis­ti­scher Hard­li­ner zuge­ord­net wird?

Im roten Salon

Für zwei Drit­tel der Jusos stellt sich die Frage nicht. Je enger man mit der eige­nen Ideo­lo­gie ver­floch­ten ist, desto weni­ger spielt die Real­po­li­tik eine Rolle. Im Grunde ist es wohl ein Spiel: Wer die Regeln kennt, wer die Spra­che spricht, wer die Kon­takte pflegt, der gewinnt am Ende ein Amt, eine Funk­tion oder zumin­dest Aner­ken­nung in den eige­nen Rei­hen. Der ein­gangs zitierte Salon­bol­sche­wist, den Kurt Tucholsky in sei­nen Wer­ken gerne ver­spot­tet, fin­det man hier in bes­ter Defi­ni­tion des Duden: Als jemand, der sich für die Theo­rien des Bol­sche­wis­mus begeis­tert, sie aber in der Pra­xis nur dann ver­tritt, wenn er dadurch nicht auf per­sön­li­che Vor­teile ver­zich­ten muss.

Aber so ver­bit­tert das alles auch klin­gen mag: Die echte und gute sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Poli­tik für junge Men­schen wird vor allem an der Basis gemacht. In den Unter­be­zir­ken, den Stadt­be­zir­ken und den Arbeits­ge­mein­schaf­ten ist man glück­li­cher­weise weit ent­fernt von den roten Paro­len aus einer Zeit, in der man die Ver­damm­ten die­ser Erde noch tat­säch­lich zum Hun­gern gezwun­gen hat. Das beru­higt mich nachhaltig.

Und so bleibt vom Bun­des­kon­gress die Erin­ne­rung an eine über­ra­schend reak­tio­näre Ver­an­stal­tung, mit wenig Rele­vanz für die Men­schen und das Mor­gen. Man hat die Gesell­schaft mit 150 Jahre alten Theo­rien erklärt, man hat Unge­rech­tig­keit in schwie­ri­gen Wor­ten beschimpft, man hat sich auf Auto­ri­tä­ten aus den ver­gan­ge­nen zwei Jahr­hun­der­ten beru­fen und man hat eine Arbei­ter­folk­lore gefei­ert, die schon in den Acht­zi­gern anfing zu ros­ten. Immer wie­der wurde das Man­tra des istischen-istischen-istischen Rich­tungs­ver­bands her­un­ter­ge­be­tet und damit um bil­li­gen Applaus gebuhlt. Immer wie­der wur­den kom­pli­zierte Wör­ter auf­ein­an­der getürmt, mit denen man die Welt in letz­ter Instanz erklä­ren will.

Das beschlos­sene Pro­gramm ist des­halb auch keine akute Hilfe für Hilfs­be­dürf­tige, keine kon­krete Gesell­schafts­ana­lyse, son­dern ein nost­al­gi­sches Wol­ken­ku­ckucks­heim vol­ler aka­de­mi­scher Absichts­er­klä­run­gen, ein kol­lek­ti­ves „Man müsste mal“ und „So geht es nicht“, dabei aber so weit ent­fernt vom All­tag der jun­gen Men­schen wie die Sexu­al­mo­ral der römi­schen Kardinalskurie.

Wobei man in Rom mitt­ler­weile pro­gres­si­ver denkt. Zwar haben die Dele­gier­ten auch die­ses Mal am Ende flei­ßig gesun­gen: Es hilft uns kein Gott, kein Kai­ser noch Tri­bun — der bes­sere Kapi­ta­lis­mus­kri­ti­ker aber, so scheint es in die­sen Tagen, ist der Papst in Rom. Das muss zu den­ken geben.

C für Coldplay.

von Daniel am 05.03.2013

Jetzt also die Homo­ehe. Nach­dem unlängst das Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt mit einem sehr ein­deu­ti­gen Urteil die Adop­ti­ons­rechte für homo­se­xu­elle Eltern gestärkt hat, will die Union nun „in Sachen Gleich­stel­lung beweg­li­cher wer­den“. Nach Wehr­pflicht­wende, Min­dest­lohn­wende und Ener­gie­wen­de­wende steht der CDU nun also die Homo­wende ins Par­tei­haus. Obwohl man in Ber­lin und Mün­chen ab– und wie­der anwie­gelt, ist das nur der nächste Schritt in einer Reihe von Win­kel­zü­gen, mit der die Bun­des­kanz­le­rin ihrer Par­tei die größt­mög­li­che Wäh­ler­schaft ver­schaf­fen möchte. Wah­len wer­den in der Mitte gewon­nen, das weiß man auf bei­den Sei­ten des poli­ti­schen Spektrums.

Der the­men­ori­en­tierte, auf­ge­klärte und frei­heit­lich den­kende Mensch ist nun geneigt zu lächeln, da die Homo­ehe für ihn eine gute Sache ist — ganz gleich, wel­che Par­tei nun einen Ände­rungs­ein­trag ins Par­la­ment ein­bringt. Er mag hin­zu­fü­gen: Umso bes­ser wenn es die Koali­ti­ons­par­teien sind, dann wird der Antrag beson­ders schnell beschlossen.

Die­ses Lächeln gefriert aller­dings, wenn plötz­lich die soziale Kälte die­ser Kehrt­wende ins Bewusst­sein kriecht. Anders als Ener­gie– oder Lohn­po­li­tik berührt die Frage nach der Homo­ehe näm­lich etwas, das eigent­lich nicht Teil der par­tei­li­chen Macht­spiel­chen sein sollte: Die Menschenwürde.

Bei der Ener­gie­wende konnte noch gut­mü­tig unter­stellt wer­den, dass erst ange­sichts der dra­ma­ti­schen Bil­der aus Fukus­hima das ganze Poten­tial ato­ma­ren Risi­kos bewusst wurde. Ein zwei­tes Tscher­no­byl, aller­dings in einem der moderns­ten Indus­trie­län­der unse­rer Erde. Da musste selbst Herr Kei­tel vom BDI schlucken.

Das Umden­ken — andere sagen Ein­kni­cken — bei Wehr­pflicht und Min­dest­lohn dage­gen waren voll­ends tak­ti­sche Manö­ver. Ganz in der Tra­di­tion des alten Ade­nau­ers ist der Bun­des­kanz­le­rin das Geschwätz von ges­tern herz­lich gleich­gül­tig, wenn man damit dem Geg­ner den Wind aus den roten Segeln neh­men kann. Mer­kel ist wie keine andere Poli­ti­ke­rin eine ideo­lo­gie­be­freite Stra­te­gin, ihr poli­ti­sches Han­deln scheint nahezu aus­schließ­lich prag­ma­tisch kal­ku­liert: Wel­ches Thema bringt wie viele Wäh­ler­stim­men, hat wel­che Geg­ner und ist wie gut der eige­nen Par­tei vermittelbar?

Was man­che als schlei­chende Sozi­al­de­mo­kra­ti­sie­rung der CDU bezeich­nen, ist in Wahr­heit nichts ande­res als die kal­ku­lierte Mas­sen­taug­lich­keit. Die bür­ger­li­che Volks­par­tei wird zur Amöbe, die ihre Geg­ner the­ma­tisch umfließt. Das Wahl­pro­gram gleicht in so einem Fall dem per­fek­ten Pop­song: Fest­ge­schraubt an der Spitze der Charts, dabei aber seicht und irgend­wie cha­rak­ter­los. Eine Melange des Gefäl­li­gen. Das C von CDU steht dann für Cold­play, im dop­pel­ten Sinne.

Denn diese fle­xi­ble Hal­tung mag bei eher abs­trak­ten The­men wie Ener­gie­wende, Wehr­pflicht, Steu­er­po­li­tik oder ähn­li­chem eine stra­te­gi­sche Berech­ti­gung haben. Poli­tik ist nun­mal Krieg mit ande­ren Mit­teln, und dort und in der Liebe ist bekannt­lich alles erlaubt (außer gleich­ge­schlecht­li­che Eheschließungen).

Bei Fra­gen der Men­schen­würde offen­bart die­ses Kal­kül jedoch eine soziale Kälte, die umso per­fi­der ist, weil man sie im Gewand der wert­kon­ser­va­ti­ven Tugen­den kul­ti­viert. Denn um nichts weni­ger geht es bei der gleich­ge­schlecht­li­chen Ehe: Um die Men­schen­würde und den Anspruch auf prin­zi­pi­en­hafte Gleich­heit aller Men­schen trotz fak­ti­scher Unter­schiede. Es geht um nichts weni­ger als die Frage, ob alle Men­schen in Deutsch­land das glei­che Recht auf eine staat­lich insti­tu­tio­na­li­sierte Fami­lie haben. Unab­hän­gig ihrer sexu­el­len Prä­fe­renz, die in den wenigs­ten Fäl­len eine freie Ent­schei­dung ist und des­halb als Wesens­merk­mal jedes Ein­zel­nen gel­ten muss.

Die ein­zi­gen ernst­haf­ten Argu­mente gegen eine sol­che Gleich­stel­lung sind reli­giö­ser Natur: Die Ehe als christ­li­ches Sakra­ment, mit ein­deu­ti­gen bib­li­schen Vor­ga­ben. Zwar wird diese Auf­fas­sung häu­fig mit ande­ren sozia­len, finan­zi­el­len oder bio­lo­gi­schen Aspek­ten bemän­telt, aber letz­ten Endes argu­men­tie­ren die Geg­ner der Homo­ehe immer ent­lang die­ser christ­li­chen Kul­tur­tra­di­tion: Mut­ter und Vater seien gut für das Kind, jede andere Kom­bi­na­tion schlecht. Hier wären die tra­di­tio­nel­len Werte unse­rer Kul­tur bedroht, heißt es dann allenthalben.

Dass diese Auf­fas­sung falsch ist und schnell wider­legt wer­den kann, belegt unter ande­rem eine Stu­die des Jus­tiz­mi­nis­te­ri­ums über Kin­der aus gleich­ge­schlecht­li­chen Lebens­part­ner­schaf­ten. Das Ergeb­nis ist ein­deu­tig: Die Regen­bo­gen­fa­mi­lie ist nicht schlech­ter als jede andere Fami­lie, ihr wird sogar beschei­nigt, das Kind sexu­ell reflek­tier­ter zu erzie­hen. Ange­sichts fort­schrei­ten­der Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und immer bes­se­ren sexu­el­len Ent­fal­tungs­mög­lich­kei­ten kann das nur ein Vor­teil sein. Ein Nach­teil ist es nur dann, wenn man diese Ent­wick­lung ablehnt. Des­halb weht der Wind auch bei einem Groß­teil von CDU und CSU aus die­ser Rich­tung, selbst wenn einige moderne Par­tei­mit­glie­der das nicht gerne sehen und auch viele auf­ge­klärte Chris­ten die­sen Stand­punkt ihrer Kir­che ganz und gar nicht schätzen.

In einem zeit­ge­mä­ßen, welt­li­chen Staat ist das christ­li­che Sakra­ment näm­lich nur ein Teil­as­pekt von Ehe. Und zwar für jene, denen unsere Reli­gi­ons­frei­heit die Aus­übung ihres Glau­bens gestat­tet. Für den Rest der Bevöl­ke­rung ist sie schlicht­weg das recht­lich orga­ni­sierte Zusam­men­le­ben zweier Men­schen. Mit steu­er­li­chen Vor­tei­len, da der Staat unterm Strich von die­ser Lebens­form pro­fi­tiert. Im Grunde ist sich der deut­sche Sou­ve­rän da auch ziem­lich einig: Glei­ches Recht für alle, auch bei der Ehe.

Angela Mer­kel hat als ost­deut­sche Pro­tes­tan­tin mit sol­cher­art reli­giös umwölk­ten Argu­men­ta­tio­nen ohne­hin nur wenig am Hut. Inso­fern teilt sie auch die tra­di­tio­na­lis­ti­sche Über­hö­hung des Ehe­i­de­als nicht, das sich ihre christ­lich moti­vier­ten Gefolgs­leute aus der CSU so gerne aufs Ban­ner schrei­ben. Das zei­gen allein ihre ganz per­sön­li­chen Familienverhältnisse.

Dass die Kanz­le­rin sich nun der Mei­nung eines Groß­teils der deut­schen Bür­ger­schaft anschließt, ist des­halb aber noch lange kein Ver­such an Moder­ni­tät. Es ist auch kein kor­ri­gie­ren­der Akt der Men­schen­würde, wie es die offi­zi­elle Par­teirhe­to­rik ange­sichts des gericht­li­chen Urteils ver­packt. Nie­mand wird ernst­haft behaup­ten kön­nen, dass man sich im Bun­des­kanz­ler­amt erst über die Rechts­lage im Kla­ren sein musste, um bei der Gleich­be­rech­ti­gung posi­tiv Stel­lung zu bezie­hen. Es ist nichts mehr — und auch nichts weni­ger — als ein tak­ti­scher Zug ange­sichts der poli­ti­schen Wetterlage.

Und das ist der Punkt, an dem die soziale Kälte ins Bewusst­sein bricht und das Lächeln des auf­ge­klär­ten Bür­gers gefriert. Denn hier wird deut­lich, dass in die­ser Rech­nung das uni­ver­selle Recht des Men­schen auf Gleich­heit und Frei­heit nur eine stra­te­gi­schen Ware ist, mit der um die Mehr­heit gescha­chert wird. Die Gleich­heit der Bür­ger wird von der Kanz­le­rin nur dann poli­tisch gefor­dert, wenn damit Wäh­ler­stim­men gewon­nen wer­den. Und nur des­halb, weil die Regie­rung dazu vom Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richt in mitt­ler­weile fünf Urtei­len schlech­ter­dings ver­don­nert wurde.

Das Gericht sah bei all die­sen Urtei­len die betrof­fe­nen Men­schen in ihrer Würde ver­letzt. Es kann des­halb nur fair sein, wenn sich die Bun­des­re­gie­rung durch diese Kehrt­wende selbst entwürdigt.

Wie bei Cold­play:

Never an honest word
And that was when I ruled the world

We can’t handle the truth

von Daniel am 21.02.2013

Es gibt wie­der Krieg mit Deutsch­land. Des­halb gibt es auch wie­der Vete­ra­nen, meint Bun­des­ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter de Mai­zière. Eigent­lich liegt diese Erkennt­nis auf der Hand: Wo Sol­da­ten im Ein­satz sind, kann man nur hof­fen, dass es auch bald Vete­ra­nen gibt. Denn das bedeu­tet, dass die Sol­da­ten wie­der zurückkommen.

Trotz­dem ver­ur­sacht der Begriff Magen­schmer­zen, aus bekann­ten his­to­ri­schen Grün­den. Aus die­sen Grün­den lässt sich dann auch treff­lich dar­über strei­ten, inwie­fern eine Armee einen sinn­vol­len Bei­trag zur Welt­ge­mein­schaft leis­tet. Das Mei­nungs­spek­trum bei die­ser Frage reicht von pazi­fis­ti­schen Pau­scha­len über real­po­li­ti­sche Prag­ma­tik bis hin zu klas­si­schem Nationalmachismo.

Das alles ändert aber nichts an der Tat­sa­che, dass es in Deutsch­land nun wie­der Sol­da­ten gibt, die einem tat­säch­li­chen Kriegs­ein­satz hin­ter sich haben. Sie kom­men nach Hause, hof­fent­lich unver­sehrt, aber lei­der nicht sel­ten mit see­li­schen oder phy­si­schen Wunden.

Dass man die­sen Umstand irgend­wie in Worte fas­sen muss, steht außer Zwei­fel. Die Frage ist nur: Womit? Spricht man von Heim­keh­rern, Alt­ge­dien­ten, Ein­satz­rück­keh­rern? Oder eben von Vete­ra­nen? Letz­te­res möchte man ver­mei­den, denn damit ent­steht plötz­lich wie­der eine Nähe zum reak­tio­nä­ren Groß­va­ter, der nach  Frank­reich nur auf Ket­ten fährt. Dabei ist natür­lich jedem klar, dass den demo­kra­ti­schen Heim­keh­rer aus Afgha­nis­tan vom hit­ler­gläu­bi­gen Wehr­machts­sol­da­ten meh­rere Wel­ten tren­nen. Aber trotz­dem grum­melt es in der Magen­ge­gend, wie die nun wie­der auf­kei­mende Begriffs­dis­kus­sion zeigt.

Also tritt man beherzt die Euphe­mis­mus­mühle und ver­sucht, ein schö­nes Wort für eine unschöne Sache zu fin­den. Eine Sache immer­hin, die schon seit 2000 Jah­ren kul­turüber­grei­fend mit dem grie­chi­schen Wort Vete­ran bezeich­net wird.

Dabei liegt die Keim­zelle der Debatte ganz wo anders: Deutsch­land hat ein Pro­blem mit sei­nen Sol­da­ten. Das ist eine Bin­sens­weis­heit und zeigt sich bei mili­tä­ri­schen Anläs­sen am Rau­nen des Feuille­tons — oder auch in hand­fes­ten Pro­tes­ten, wenn es zum Bei­spiel um den Zap­fen­streich geht. Das alles ist his­to­risch nach­voll­zieh­bar, aber im kon­kre­ten Fall für die Gesell­schaft schäd­lich. Denn einer­seits wird flei­ßig nach dem ver­ant­wor­tungs­vol­len  Bür­ger in Uni­form geru­fen, ande­rer­seits der Uni­for­mierte gerne durch ver­ant­wor­tungs­lose Bür­ger im Regen ste­hen gelas­sen. Was das für Fol­gen haben kann, konnte man in Ame­rika an den Vietnam-Veteranen beob­ach­ten: Selbst­morde, Amok­läufe, geschei­terte Exis­ten­zen — die Liste ist lang und grausam.

Ame­rika konnte sich damals nicht mit der unge­müt­li­chen Wahr­heit anfreun­den, dass es den Viet­nam­krieg fak­tisch ver­lo­ren hatte. Waren die Welt­kriegs­ve­te­ra­nen als Hel­den gefei­ert wor­den, sah man in den Heim­keh­rern aus Viet­nam nur die schmerz­li­che Erin­ne­rung an die Nie­der­lage. Das Buch First Blood und seine Haupt­fi­gur John Rambo sind eine ein­drucks­volle lite­ra­ri­sche Ver­ar­bei­tung die­ses Traumas.

In Deutsch­land sind die heim­keh­ren­den Vete­ra­nen eben­falls eine schmerz­li­che Erin­ne­rung: Wir füh­ren wie­der Krieg. Kei­nen Angriffs­krieg, kei­nen tota­len Krieg — aber eben Krieg. Und so lang­sam erwacht die Gesell­schaft aus dem pazi­fis­ti­schen Traum der Nach­kriegs­jahre und sieht sich plötz­lich mit Figu­ren wie Miloše­vić, Gad­dafi, Assad, Ahma­dined­schad oder Kim Jong-ill bzw. –un kon­fron­tiert, denen das Welt­kriegstrauma und die schreck­li­chen Lek­tio­nen der Hit­ler­zeit herz­lich egal sind.

Und mit die­sem Erwa­chen reift auch eine andere Erkennt­nis: Dass man als fünft­größte Volks­wirt­schaft der Welt viel­leicht auch ein paar Gewehre im Schrank haben sollte. Falls mal was pas­siert. Aber diese Erkennt­nis ist schmerz­haft, weil sie mit dem Selbst­ver­ständ­nis einer geläu­ter­ten und mora­lisch her­aus­ge­for­der­ten Welt­macht kollidiert.

Aus dem Umfeld von Willy Brandt ist das Dik­tum über­lie­fert, dass von deut­schem Boden nie­mals wie­der Krieg aus­ge­hen dürfe. Das ist auch heute noch ein loh­nens­wer­tes Ziel und kann nicht vehe­ment genug ver­tei­digt wer­den. Aber umso ver­ständ­li­cher sind auch die Magen­schmer­zen, die der Begriff Vete­ran aus­löst. Er erin­nert daran, dass zwar kein Krieg von deut­schem Boden aus­geht, aber von die­sem Boden immer­hin Krie­ger los­zie­hen, um anderswo zu kämp­fen. Und sei es nur, um die Men­schen­rechte gegen grau­same Dik­ta­to­ren zu ver­tei­di­gen. Es ist lei­der so, wie es Colo­nel Jes­sup in dem Film A Few Good Men sei­nem Anklä­ger ent­ge­gen­schleu­dert:

You can’t handle the truth: We live in a world that has walls — and those walls have to be guar­ded by men with guns.

Diese Figur des Colo­nels mag ein faschis­to­ider, selbst­ge­rech­ter Dreck­sack sein — aber in die­sem Moment bün­delt der Autor in ihr das zivi­li­sa­to­ri­sche Dilemma, in dem eine Gesell­schaft und ihre Armee in Zei­ten des Krie­ges gefan­gen ist.

Des­halb kann es nur falsch sein, mit Schön­fär­be­rei die­sen Umstand zu ver­schlei­ern. Die Welt wird nicht fried­li­cher, weil man für heim­keh­ren­den Sol­da­ten ein net­tes Wort ver­wen­det. Es gibt wie­der Krieg mit Deutsch­land, und es muss zunächst darum gehen, diese Tat­sa­che zu akzeptieren.

Dann ist es auch egal, was für ein Wort man für ein­satz­er­probte Sol­da­ten ver­wen­det. Dann kann man sich fra­gen, wie man mit ihnen umgeht. Und wie man Kriegs­ein­sätze auf ein Mini­mum reduziert.

Yes he can.

von Daniel am 14.02.2013

Die Reden des ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten sind all­ge­mein eine sehr pathe­ti­sche Ange­le­gen­heit. Wenn der mäch­tigste Mann der Welt das Wort ergreift, dann redet er nicht in der Stimme des All­tags, son­dern trifft den Ton der Geschichte. Dies gilt für die wich­tigste poli­ti­sche Rede sei­nes Amtes, der Anspra­che zur Lage der Nation; vor allem aber gilt es für die größte Rede sei­ner Amts­zeit, der Antritts­rede nach der Ver­ei­di­gung. Vor tau­sen­den Men­schen am Washing­ton Monu­ment, auf dem Bal­kon des pracht­voll geschmück­ten Kapi­tols in Sicht­weite des Lin­coln Memo­rial – grö­ßer kann es nicht sein.

Die Inau­gu­ral Adress von Barack Obama ver­gan­ge­nen Mon­tag traf dabei den­noch (oder des­we­gen) einen sehr welt­po­li­ti­schen Ton. Der Prä­si­dent bezog glas­klar Stel­lung zu ver­schie­de­nen Posi­tio­nen sei­ner Agenda: Schär­fere Waf­fen­ge­setze, ein neues Ein­wan­de­rungs­ge­setz und der Stär­kung des Sozi­al­staa­tes. Außer­dem for­mu­lierte er Maß­nah­men gegen den Kli­ma­wan­del und for­derte in sehr kla­ren Wor­ten die glei­chen Bür­ger­rechte für Homosexuelle.

Beein­dru­ckend war aber vor allem der rhe­to­ri­sche Kunst­griff, mit dem die Rede zusam­men­ge­hal­ten wurde: Obama hat von den Grün­der­vä­tern Ame­ri­kas bis zum heu­ti­gen Tag eine große, qua­si­re­li­giöse Heils­ge­schichte erzählt, der er sich selbst durch sei­nen per­sön­li­chen Glau­ben ver­pflich­tet fühle.

Für Euro­päer mag das selt­sam klin­gen, in der ame­ri­ka­ni­schen Poli­tik ist es aller­dings sehr wir­kungs­voll: In dem der Prä­si­dent all seine poli­ti­schen Argu­mente im Bewusst­sein sei­nes Glau­bens auf diese Grün­der­vä­ter zurück­führt, nimmt er kon­ser­va­ti­ven Kräf­ten wie der reli­giö­sen Rech­ten oder der Tea Party den Wind aus den Segeln. Denn gerade weil diese rech­ten Grup­pen sich immer auf die Grün­der­vä­ter und die Ver­fas­sung beru­fen, wird von jenen nie­mand die Keim­zelle der prä­si­dia­len Rede bestrei­ten können:

We hold these truths to be self-evident, that all men are crea­ted equal, that they are endo­wed by their Crea­tor with cer­tain unali­enable Rights, that among these are Life, Liberty, and the Pur­suit of Happiness.

Obama hat diese berühmte Pas­sage aus der Ver­fas­sung nicht nur zitiert, er ver­län­gert sie auch in die Gegenwart:

Today we con­ti­nue a never-ending jour­ney, to bridge the mea­ning of those words with the rea­li­ties of our time. For history tells us that while these truths may be self-evident, they have never been self-executing.

Aus sei­ner Erzäh­lung von der gro­ßen freien Nation von welt­ge­schicht­li­chem For­mat lei­tet Obama nun alle Rechte, Ver­pflich­tun­gen, Ideale und Ansprü­che jedes ein­zel­nen Men­schen ab und macht damit sein eige­nes poli­ti­sches Pro­gramm zur Sache aller freien Men­schen der Welt. Jeder Absatz mit poli­ti­schen For­de­run­gen beginnt mit den geschichts­träch­ti­gen Wor­ten We the people…, die auch schon die Ver­fas­sung der Ver­ei­nig­ten Staa­ten einleiten.

Obama beschränkt die­ses Pro­gramm damit nicht nur auf die Ver­ei­nig­ten Staa­ten, son­dern macht die ame­ri­ka­ni­sche Ver­fas­sung gleich­sam zu einer Grund­lage uni­ver­sa­ler Friedensarchitektur:

Ame­rica will remain the anchor of strong alli­an­ces in every cor­ner of the globe; and we will renew those insti­tu­ti­ons that extend our capa­city to manage cri­sis abroad, for no one has a grea­ter stake in a peace­ful world than its most power­ful nation. We will sup­port demo­cracy from Asia to Africa; from the Ame­ri­cas to the Middle East, because our inte­rests and our con­sci­ence com­pel us to act on behalf of those who long for freedom.

Das Ziel ist damit ein­deu­tig for­mu­liert: Eine welt­um­span­nende Pax Ame­ri­cana, die Gleich­heit, Gerech­tig­keit und Wohl­stand ver­spricht und garan­tiert. Ein durch und durch impe­ria­ler Gedanke, der mit einer welt­ge­schicht­li­chen Sen­dung vor­ge­tra­gen wird und in einem  wirk­lich muti­gen Appell gipfelt:

Let us toge­ther ans­wer the call of history!

So einen Satz ohne Lächer­lich­keit und fal­schem Pathos vor tau­sen­den Men­schen aus­zu­ru­fen, muss man sich leis­ten kön­nen. Aber es ist eben auch die größte Rede des mäch­tigs­ten Man­nes der Welt.

Die Rede im Wort­laut: